„Haben oder Sein“ – das ist hier die Frage!
Haben wir, um zu sein – oder sind wir, um zu haben. Eine Frage – frei nach Erich Fromm - die sich auch in Tschechien immer mehr Menschen stellen oder stellen sollten. Nicht nur, dass das Land politisch schon lange irgendwo im Westen angekommen ist. Auch die Marktwirtschaft ist in den letzten 20 freien Jahren in Windeseile über das Land gekommen. Konsumtempel heißen die Menschen in allen tschechischen Städten als erste am Ortseingang willkommen. Zuletzt hatte Ex-Präsident Václav Havel seine moralische Autorität in die Waagschale geworfen und die Hässlichkeit der Stadtränder scharf kritisiert. Der Konsum wird – gerade jetzt vor Weihnachten – für viele Familien in Tschechien zur Schuldenfalle. Vergangene Woche wurde mit dem „Den nenakupování“, dem Tag des Nicht-Kaufens, eine Abkehr von der Konsummentalität beschworen. Christian Rühmkorf berichtet im Forum Gesellschaft über ein Phänomen, das auch ein Indikator dafür ist, wie sehr sich Tschechien in die „westliche Gemeinschaft“ integriert hat.
„Mit diesem Feiertag appellieren wir an die Menschen, ihre Gewohnheiten ein wenig zu ändern. Sie sollen ihre Werte überdenken, darüber nachdenken, ob es nötig ist, Wasser in Plastikflaschen zu kaufen, ob man Schnittblumen kaufen muss. Denn die kommen aus Afrika, auch wenn sie über Holland eingeführt werden. Es geht also darum, darüber nachzudenken, welchen Lebensstil wir pflegen, ob das Einkaufen nicht schon die Kultur ersetzt, die Freizeit oder geistige Werte.“
Der „Buy Nothing Day“ wurde 1992 in Kanada ins Leben gerufen, also tief im Westen, wo Konsum seit jeher ein Antriebsrad der Gesellschaft war. 20 Jahre nach der Samtenen Revolution, nach dem Übergang also von der Plan- zur Marktwirtschaft gibt es auch in Tschechien genügend Gründe, einen solchen Tag zu begehen, meint Hana Chalupská. Wie sieht der Psychiater und Theologe Max Kašparů das Konsumverhalten der Tschechen?
„Ich sehe das als Problem, als eines, das langsam aber kontinuierlich größer wird. Aber nicht absolut großflächig, denn Einkaufen in dem Sinne, dass Abhängigkeit entsteht, das kann sich ja nur der Teil der Bevölkerung erlauben, der das nötige Geld für diese Abhängigkeit hat. Ähnlich ist das mit der Abhängigkeit von anderen Dingen oder Stoffen wie Drogen. Also, wenn jemand gut betucht ist, kann sich die Anhängigkeit ausweiten. Wenn jemand nicht das Geld dazu hat, dann wird er entweder nicht abhängig oder er besorgt es sich durch Straftaten.“Die Risiken dieser Form von Abhängigkeit seien wie bei anderen krankhaften Süchten, meint Psychiater Kašparů:
„Das ist eine Spirale, die sich allmählich hinaufschraubt und wächst. Wir sollten uns an das alte Sprichwort erinnern, das besagt: Wir essen, um zu leben. Und nicht: Wir leben, um zu essen. Und wir müssen uns langsam bewusst werden, dass wir nicht leben, um zu kaufen, sondern kaufen, um zu leben. Aber wenn sich genau dieses Verhältnis umkehrt, wenn also ein Mensch lebt, um zu kaufen, dann ist das ein Anzeichen für Sucht. Und dann wird es eben auch finanziell brenzlig, denn viele Leute hier machen dafür Schulden. Und dann kommt gleich hinter dem Weihnachtsmann der Gerichtsvollzieher und pfändet.“
Die Verschuldung tschechischer Haushalte lag im September dieses Jahres bei 41,7 Milliarden Euro, wie die Tschechische Nationalbank nur wenige Tage nach dem „Buy Nothing Day“ vermeldet. Und die Situation hat sich gegenüber dem letzten Jahr verschärft: Über 2,8 Milliarden Euro sind an Schulden hinzugekommen. Laut Statistik sind es gerade die niedrigen Einkommensgruppen, die sich über ihre finanziellen Möglichkeiten verschulden. Das Einkommen der Menschen, die sich nicht mehr aus ihrer Verschuldungsspirale allein retten können und sich an eine Beratungsstelle wenden, verdienen umgerechnet zumeist zwischen 325 und 536 Euro. Zum Vergleich: Das Durchschnittseinkommen in Tschechien liegt bei 955 Euro. Gegen Konsumabhängigkeit gibt es keine Medikamente. Auch der Psychiater kann sie nicht von heut´ auf morgen heilen, sagt Max Kašparů:„Das ist eine Frage langer Einübung, einer langfristigen Umorientierung. Das ist ein bisschen wie mit einem Computer, der umprogrammiert werden muss. Und in den meisten Fällen ist das eine Zusammenarbeit des Psychologen mit der gesamten Familie.“
Gerade in Konsumgesellschaften sind die Kinder eine der wichtigsten Zielgruppen für die Werbebranche – und damit eine besonders gefährdete Gruppe für Konsumabhängigkeit. Denn Werbung arbeitet mit Emotionen. Kinder aber haben noch geringere Fähigkeiten, ihre Gefühle und Möglichkeiten zu überschauen. Damit geraten in einer Konsumgesellschaft aber auch die Eltern unter Druck, meint der Theologe und Psychiater Max Kašparů:„Die Kinder machen ihren Eltern Druck. Und die Eltern stehen nicht nur unter dem Druck der Reklame, sondern auch der Konsummentalität in dieser Gesellschaft. Wenn Du nicht das hast, was die anderen haben, wenn das Kind in der Schule nicht die Markenartikel bei der Skiausrüstung hat wie die anderen, dann ist das Kind in den Augen der anderen minderwertig und wird schikaniert. Das ist ein Problem der gesamten Gesellschaft.“