Herr*innen: Prager Theaterfestival deutscher Sprache setzt auf Frauen

Im Fokus der 27. Auflage stehen starke weibliche Akteurinnen, Schicksale und eine Welt, in der Frauen ihren Platz erobern müssen.in der Frauen ihren Platz erobern müssen. Ein Interview mit Festivalleiter Petr Štědroň.

Foto: Theaterfestival deutscher Sprache

Herr Štědroň, das Prager Theaterfestival deutscher Sprache findet in diesem Jahr unter dem Motto Herr*innen statt. Was drückt dieses Motto aus?

„Wir wollten einfach eine sehr große Anzahl Regisseurinnen in der deutschsprachigen Theaterlandschaft und die Kraft der weiblichen Energie im Theater zeigen. So wurde zum Beispiel die klassische Commedia del’arte von Carlo Goldoni ‚Der Diener zweier Herren‘ im Berliner Ensemble weiblich besetzt. Das bringt unterschiedliche Aspekte und sehr interessante Situationen. Das Herr*innen Motto umfasst eigentlich die ganze Dramaturgie der diesjährigen Ausgabe des Festivals.“

War dieser Leitfaden bereits ihr Kriterium bei der Auswahl der Stücke und Vorstellungen, oder hat es sich herausgestellt, dass eben solche Theatervorstellungen auf den deutschen Bühnen dominieren?

„Das Motto entstand erst im Nachhinein. Dabei muss es sich nicht nur um rein weibliche Inszenierungen handeln, sondern auch solche, die eine gewisse toxische Männlichkeit beziehungsweise ein Moment der ‚Cancel Culture‘ zeigen. Dazu gehört zum Beispiel das Debatten-Musical ‚Slippery Slope‘ aus dem Maxim-Gorki-Theater. Das Motto entspringt also einer starken Linie, die wir seit mehreren Jahren am deutschen Theater verfolgen.“

Wie ist es auf tschechischen Bühnen: Gibt es da ähnliche Tendenzen?

„Ich glaube schon. Inzwischen bestehen auch im tschechischen Theater diese Tendenzen, die Rolle der Frauen in der tschechischen Theaterlandschaft zu verstärken. Oft wird sich auch mit verschiedensten Formen von Gewalt an Minderheiten beschäftigt. Ja, ich denke, dies ist auch hierzulande eine Tendenz.“

Frau als Richard III.

Richard the Kid & the King | Foto: Nationaltheater Prag

Eine Frau spielt auch die Hauptrolle im Theaterstück, mit dem das gesamte Festival eröffnet wird – und zwar Shakespeares Richard III. Um welche Inszenierung handelt es sich?

„Das ist eine riesengroße und monumentale Inszenierung aus dem Deutschen SchauSpielHaus in Hamburg in der Regie von Karin Henckel. Das Bühnenbild ist wunderschön und technisch sehr kompliziert. Wir zeigen diese Inszenierung im Ständetheater. Die Besetzung in der Hauptrolle durch Lina Beckmann, eine wunderbare deutsche Schauspielerin, zeigt verstärkt die männliche toxische Gewalt, die in dem ganzen Drama steckt. Die Spirale von Gewalt, die Richard III. verübt, ist in der weiblichen Darstellung natürlich ein bisschen seltsam, sie bringt eine völlig neue Energie in das Stück. Deswegen wurde es auch einstudiert. In Lina Beckmann hat die Regisseurin eine wirklich tolle Darstellerin gefunden.“

Ein Bestandteil des Festivals ist auch ein Projekt des Ständetheaters in Prag unter dem Titel „Das Ständetheater dem Volke!“. Worum geht es da?

„Dies ist eine Koproduktion des Festivals und des Nationaltheaters in Prag. Die Inszenierung geht auf ein historisches Ereignis aus dem Jahr 1920 zurück. Damals wurde das Prager Ständetheater, das bis dahin in deutschen Händen gewesen war, von Tschechen übernommen – und zwar relativ illegal und gewaltsam. Wir versuchen, dieses Ereignis zu rekonstruieren. Ich finde es sehr wichtig, auch die Stolpersteine der gemeinsamen Geschichte zu zeigen.“

Petr Štědroň | Foto: Vladimír Kiva Novotný,  Archiv des Tschechischen Rundfunks

Sie zeigen während des Festivals nicht nur Inszenierungen aus Deutschland, sondern traditionell auch eine tschechische Vorstellung, die aufgrund eines ursprünglich deutschen Textes entstanden ist. Diese wird vom Festival auch ausgezeichnet. Welche Inszenierung bekommt in diesem Jahr den Josef-Balvín-Preis?

„Der Laureat des diesjährigen Josef-Balvín-Preises ist eine Inszenierung aus Brünn, aus dem dortigen Hadivadlo in der Regie von Kamila Polívková. Sie heißt ‚Die Wand‘. Es ist eine Adaption des Romans der österreichischen Schriftstellerin Marlen Haushofer. Eine sehr starke Inszenierung, auch mit einer starken Frauenfigur. Diese erwacht eines Tages, umgeben von einer durchsichtigen Wand. So entsteht eine existenzielle Situation, viele Fragen zum bisherigen Leben der Protagonistin werden gestellt, und eine ungewisse Zukunft wird gezeigt.“

In Prag stellen sich auch weitere deutschsprachige Bühnen vor. Was würden Sie aus dem Programm noch hervorheben?

„Eine sehr bemerkenswerte Inszenierung kommt aus dem Staatstheater Hannover und heißt ‚Ein Mann seiner Klasse‘. Es ist die Adaption eines Prosatextes von Christian Baron aus dem Jahre 2020. Sie beschreibt die Situation eines Jungen, der unter dem Druck eines gewalttätigen Vaters aufwächst, in einem Arbeiterviertel in Kaiserslautern. Es ist sehr rührend, sehr klug. Diese Inszenierung von Lukas Holzahausen wurde unter anderem zum Berliner Theatertreffen eingeladen.“

Open Call für junge Talente

Eine Neuigkeit der 27. Auflage des Prager Theaterfestivals deutscher Sprache ist ein Open Call, mit dem Sie sich an Theaterschulen in Deutschland gewandt haben. Was konkret haben Sie Ihnen angeboten, und wie war das Echo?

„Wir haben die Teilnahme am Festival angeboten. Das heißt, wir zeigen im Rahmen des Festivals die beste Inszenierung aus diesem Open Call. Wir haben alle deutschsprachigen Theaterakademien um eine Inszenierung ihrer ihrer Absolventen gebeten. Insgesamt 32 Inszenierungen wurden uns angeboten, sie sind alle sehr interessant und auf sehr hohem Niveau. Aus diesen 32 Bewerbungen haben wir ‚Drei Schwestern‘ in der Regie von Alina Sobota von der Hamburger Akademie gewählt. Es handelt sich um eine Neubearbeitung des Textes von Tschechow. Der Rahmen stammt von dem russischen Autor, aber die Konsequenzen der Gespräche sind ganz anders als bei Tschechow.“

Im Rahmen des Off-Programms findet auch eine Ausstellung statt, und zwar im Theater am Geländer. Was wird dort gezeigt?

„Die Ausstellung heißt ‚Ostwärts in den Westen‘. Es ist eine Serie von Fotografien aus Jahr 1989. Im Palais Lobkowitz, also in der deutschen Botschaft in Prag, haben sich im September 1989 DDR-Flüchtlinge versammelt. Es sind Fotos aus diesen schwierigen Tagen, die Hans Dietrich Genscher dann bestens gelöst hat, indem er ihnen Asyl in der Bundesrepublik Deutschland gewährt hat. In Tschechien war dies ein sehr wichtiger Moment, deswegen wollen wir diesen gemeinsam mit dem Bremer Bündnis, das die Ausstellung gemacht hat, wieder in Erinnerung rufen.“

Das aktuelle 27. Prager Theaterfestival deutscher Sprache präsentiert vom 9. November bis 4. Dezember 2022 eine Auswahl bemerkenswerter deutschsprachiger Produktionen. Sie kommen aus dem Repertoire des Deutschen SchauSpielHauses Hamburg, des Berliner Ensembles, des Maxim-Gorki-Theaters, des Schauspiels Hannover und des Volkstheaters Wien. Die Aufführungen werden mit tschechischen Untertiteln präsentiert. Begleitet wird dies durch ein Rahmenprogramm mit einer Ausstellung, moderierten Online-Diskussionen mit deutschsprachigen Theaterschaffenden und weiteren thematischen Veranstaltungen.

Das Programm finden Sie unter www.theater.cz. Der Kartenvorverkauf beginnt am 26. Oktober im Netzwerk von GoOut.