Im Reich des Buches: Wird der Prager Wenzelsplatz zum zweiten CharingCross?
Prag wird u.a. auch als eine Stadt der Paläste bezeichnet. Doch wir wollen heute von keinem Denkmal der Barockarchitektur erzählen, wie man hätte erwarten können. Kurz vor Weihnachten wenden wir unsere Aufmerksamkeit dem weihnachtlich geschmückten Wenzelsplatz zu und besuchen den dortigen Buchpalast "Kanzelsberger". Im Kultursalon warten auf Sie Markéta Maurová und Gerald Schubert.
Wie viele andere Dinge in Tschechien hat auch die Art und Weise, wie man Bücher kauft und verkauft, in den letzten Jahren einen bedeutenden Wandel durchgemacht. Vor 1989 gab es eine klare Regel: neue Bücher wurden am Donnerstag herausgegeben; und wer seinen gewünschten Titel bekommen wollte, der sollte sich lieber schon am Mittwochabend in die Schlange vor dem Buchladen stellen. Heute gibt es keinen festen Erscheinungstag, und die Auflagen sind meistens so hoch, dass jeder Interessent befriedigt werden kann. Schlimmstenfalls muss man das Buch bestellen oder auf einen Nachdruck warten. Doch wie überall, hat auch in diesem Bereich die neue Situation auch ihre Schattenseiten: Die Bücher sind wesentlich teurer als früher, und man muss sich gut überlegen, ob man das eine oder das andere kauft oder überhaupt lieber in einer Bibliothek ausleiht.
Mein heutiger Gast am Mikrophon weiß vieles über Bücher zu erzählen. Er stammt nämlich aus einer bekannten Buchhändlerfamilie: sein Vater arbeitet seit 40 Jahren in dieser Branche. Jan Kanzelsberger Vater und Sohn leiten derzeit ein Buchimperium, das über etwa 35 Geschäfte in Tschechien verfügt. Was lesen heute eigentlich die Tschechen? Was für Bücher sind am beliebtesten, was für Bücher werden am besten verkauft? Das ist meine erste Frage an Jan Kanzelsberger Junior:
"Das ist eine sehr schwierige Frage. Schlager, die die Leute quasi dazu zwingen, in eine Buchhandlung zu kommen, kann man pro Jahr an den Fingern abzählen. Das Interesse verteilt sich auf ein breites Sortiment. Man kann sagen, es gibt ein allgemein großes Interesse für Sprachen und alles, was mit Fremdsprachen zusammenhängt; das heißt, dass auch das Interesse für fremdsprachige Literatur steigt."
Wie ich von Jan Kanzelsberger erfahren habe, beobachtet er bei seinen Kunden eine gewisse Abkehr von der Belletristik. Bedeutet dies, dass die Leser dem Vergnügen beim Lesen weniger Wert beimessen? Oder leihen sie Romane und Erzählungen eher in Bibliotheken aus?
"Ich glaube, dass die Leute sich bemühen, Geld für solche Bücher auszugeben, die sie bei ihrer Arbeit, beim Studium wirklich brauchen. Bei der Fachliteratur ist das Interesse konstant. Es gibt ein dauerhaftes Phänomen: das große Interesse für Literatur über alternative Heilmethoden, alternative Medizin, geistige Lehren. Viele glaubten bei diesen Büchern, es handle sich nur um eine Mode, die wieder verschwinden werde. Ich habe aber die Erfahrung gemacht, dass sie eine konstante Leserschaft haben und dass gerade die Bücher über Gesundheit und Lebensstil derzeit zu den meistverkauften gehören."
Die Familie Kanzelsberger war auch die erste, die ein Buchmegastore in der Tschechischen Republik gegründet hat: das "Haus des Buches" im Adria-Palast am Prager Wenzelsplatz. Die Größe dieser Buchhandlung war damals überdurchschnittlich. Relativ neu war für die tschechischen Leser auch die Möglichkeit, selbst an die Regale heranzutreten und in den Büchern blättern zu dürfen. In der Vergangenheit war man es eher gewohnt, kleinere Buchgeschäfte zu besuchen und mit dem dortigen Händler die Auswahl eines Buches zu besprechen. Als der Buchpalast 1998 eröffnet wurde, schien es, dass seine Räumlichkeiten für immer ausreichend groß sein würden. Doch die Entwicklung hat etwas anderes gezeigt:
"Im Laufe der Jahre stieg die Zahl der Titel, es gab einige Veränderungen auf dem Büchermarkt, und wir haben im Gegenteil immer mehr mit dem Mangel an Raum gekämpft. Als daher in diesem Jahr gleich nebenan ein neues Haus, der Palast "Euro", entstand, haben wir diese Gelegenheit zu einer Erweiterung genutzt und drei neue Etagen eröffnet. Der Laden besteht nun aus fünf Etagen und die gesamte Verkaufsfläche beträgt etwa 2000 Quadratmeter."
Diese Erweiterung ermöglicht es, jene Abteilungen zu vergrößern, bei denen es eine hohe Nachfrage gibt: insbesondere die fremdsprachige Abteilung, in der vor allem Bildbände über Kunst, Photographie usw. in hohem Maße vertreten sind. Erweitert wurde das Angebot in Englisch und in Russisch. Russisch nimmt bei der Nachfrage zur Zeit übrigens die zweite Stelle nach Englisch ein. Eine weitere Neuigkeit ist ein Café, das im prächtigen ersten Stockwerk des Buchpalastes eröffnet wurde:
"Wir kamen zum Schluss, dass zu einem solchen Buchhaus ein Ort gehört, wo sich die Kunden erholen und entspannen können. Wir haben die Gelegenheit genutzt, die uns das Interieur des ersten Stockwerks unserer Buchhandlung bot: Hier befand sich früher das Tanzcafé Astra - viele Prager können sich erinnern, dass hier verschiedene tschechische Gesangsstars ihre Laufbahn begonnen haben. Wir haben hier ein Café für etwa 40 Gäste eingerichtet, mit Bedienung, und wir möchten hier gerne auch verschiedene Lesungen und Autorentreffen veranstalten."
Kanzelsberger ist nicht die einzige Buchhandlung am Wenzelsplatz. Nur eine Straße weiter sitzt im sogenannten Wiehl-Haus das Geschäft des Buchverlags Academia. Und schräg gegenüber, im Luxor-Palast, wurde im Sommer dieses Jahres ein weiteres Buchmegastore eröffnet:
"Am Wenzelsplatz konzentrieren sich bereits traditionell die Buchhandlungen. Die Dichte der Buchhandlungen schafft hier natürlich einen Konkurrenzkampf, aber ich sage immer, dass die Konkurrenz gesund ist... Einigen Hörern, die sich z.B. in London auskennen, ist diese Situation bekannt: in den europäischen Städten ist es üblich, dass an bestimmen Orten, wie etwa auf der Kreuzung Charing Cross in London, riesige Buchläden einander direkt gegenüber stehen und seit Jahrzehnten funktionieren und quasi zusammengehören. Ich glaube also, dass die Leute auf den Wenzelsplatz kommen, um Bücher zu kaufen, und dabei fast die Sicherheit haben, das gewünschte Buch hier zu bekommen."
Eine so große Buchhandlung, wie die im Adria-Palast, kann sich keine Spezialisierung leisten. Ihr Profil basiert darauf, dass sie ein möglichst breites Sortiment bietet. Und dazu gehören nicht nur die Bücher selbst, sondern auch weitere Dienstleistungen, wie etwa der Bestellungs- und Reservierungsdienst. Doch trotzdem kann das Haus Kanzelsberger auch auf ein Spezialgebiet verweisen, das ihm im Vergleich mit der Konkurrenz eine besondere Prägung verleiht.
"Wir haben bei uns auch eine Prager Spezialität, und zwar die Musikabteilung. Als in einem der wenigen Läden - ich glaube, es gibt etwa zwei oder drei solche Geschäfte in Prag - sind bei uns Musikmaterialien, Noten, Klavierauszüge und überhaupt Musikalien in hohem Maße vertreten. Und wir haben hier sogar ein Musikantiquariat, das ein Leckerbissen für an klassischer Musik interessierte Kunden ist."
Soweit, liebe Hörerinnen und Hörer, unser Besuch im Reich des Buches und unser Treffen mit dem Buchhändler Jan Kanzelsberger. Auf ein Wiederhören auf den Wellen von Radio Prag freuen sich Gerald Schubert und Markéta Maurová.