Iren Stehli – Fotografin zwischen Zürich und Prag
Iren Stehli ist eine Schweizer Fotografin mit tschechischen Wurzeln. Sie ist in Zürich geboren und in der Schweiz aufgewachsen, ihr freies Schaffen ist aber hauptsächlich eng verbunden mit Prag. In den 1970er und 1980er Jahren fotografierte sie den Alltag in der damaligen Tschechoslowakei, die Straßen Prags mit ihren Fassaden und Schaufenstern. Außerdem nahm sie Menschen auf, die sie damals in der Tschechoslowakei kennengelernt hat. Jahrzehntelang begleitete sie die in Prag lebende Romni Libuna durch ihr Leben: Von 1974 bis zum frühen Tod Libunas entstand eine Langzeitstudie, die zurzeit in Prag ausgestellt wird. Die Ausstellung „Iren Stehli – Libuna und weitere Essays“ ist die erste umfassende und rückblickende Ausstellung der Fotografin in Tschechien. Sie ist seit Mitte Oktober in der Prager städtischen Galerie zu sehen.
„Genau. Meine Mutter war Tschechin, und sie hat mit uns Kindern Tschechisch gesprochen. Als ich 15 Jahre alt war, bin ich zum ersten Mal nach Prag gereist, um meine Großeltern zu besuchen. Vorher war das gar nicht möglich. Prag hat mir wahnsinnig gefallen, die Leute, die Atmosphäre. Nach dem Abitur habe ich nicht genau gewusst, was ich studieren möchte oder ob überhaupt, und dann haben meine Eltern gesagt, ich könne ein halbes Jahr nach Prag reisen, um mein Tschechisch zu vervollkommnen.“
Ihre Entscheidung für die Fotografie kam erst in Prag?
„Die kam wirklich erst in Prag. Das war mehr oder weniger ein Zufall, weil ich zufällig eine Fotografin kennengelernt habe, die eine Dunkelkammer hatte und die ich oft besuchte. Dann habe ich das auch ausprobiert und habe sehr großen Gefallen daran gefunden. Ich habe angefangen, sehr leidenschaftlich zu fotografieren.“
Sie haben an der Film-Akademie in Prag studiert…„Ich habe an der Filmhochschule, an der FAMU, Fotografie studiert.“
In Prag beginnt jetzt eine Ausstellung, die einen Rückblick auf Ihr Schaffen bietet. Sie hat zwei Linien. Die eine ist ein Zyklus, in dem Sie fast dreißig Jahre lang das Leben der Romni Libuna dokumentiert haben. Wie entstand dieser Zyklus? Wie haben Sie Libuna getroffen?
„Ich habe Libuna im Stundenheim, in dem ich damals wohnte, getroffen. Sie hat ihrer Mutter dort beim Putzen geholfen. Dann hat mich die Mutter einmal zu sich nach Hause eingeladen, da war auch Libuna da. Dann hat mich Libuna zu sich nach Hause eingeladen, und so habe ich auch ihren Alltag kennengelernt. Ich wurde damit konfrontiert, dass sie sowohl eine wunderschöne junge Frau als auch schon Mutter und Gefährtin ist. Das war für mich alles so unglaublich, dieses Zusammentreffen, all diese Dinge, dass ich dann angefangen habe, sie oft zu besuchen – und so habe ich auch ihren Alltag kennengelernt.“Sind Sie in der Zeit danach immer nur eine Beobachterin geblieben, oder haben Sie eine engere Beziehung mit ihr geknüpft, eine Freundschaft vielleicht?„Ja, eine große, tiefe Freundschaft, weil sonst das gar nicht funktioniert hätte. Ich glaube, ich war eine gute Freundin. Das war manchmal auch schwierig, die Position der Freundin und die der Fotografin nicht zu vermischen. Ich war eine Freundin und habe sehr an ihrem Leben teilgenommen, aber zugleich war ich auch Fotografin, und dazu braucht es eine gewisse Distanz. Das ist manchmal eine große Gratwanderung gewesen.“
„Es geht um ihre Einsamkeit, um ihre Lebenskraft, es geht quasi um das Leben an sich.“
Sie erzählen mit Ihren Bildern die Lebensgeschichte Libunas. Können Sie diese auch in Worten ein bisschen darstellen?
„Ich finde das eine schwierige Sache, Bilder zu erzählen. Es ist einfach das Leben dieser Frau, die langsam vier Kinder erhält, deren Mann im Gefängnis landet. Es geht um ihre Einsamkeit, um ihre Lebenskraft, es geht quasi um das Leben an sich.“
Wie viele Fotos sind eigentlich im Rahmen dieses Zyklus, im Laufe der Jahre entstanden? Wie viele haben Sie für die Ausstellung ausgewählt?„Ach, das weiß ich gar nicht mehr. Ich habe sicher Zehntausende Bilder in diesen Jahren aufgenommen. In dieser Ausstellung sind jetzt vielleicht fünfzig Bilder.“
Wie wählt man die Fotos aus. Wie schwierig ist diese Auswahl?
„Diese Auswahl ist eine der schwierigsten Dinge. Denn es waren wirklich unheimlich viele Fotos. Man liest die schönen Fotos aus, die visuell oder formal schön sind, aber es fallen natürlich sehr viele Fotos auch weg, weil man etwas erzählen will, und da muss man schauen, wie man diese Erzählung, das Extrakt, in den Fotos herausarbeitet.“
In welchem Moment sind Sie auf die Idee gekommen, das Leben dieser Roma-Frau langfristig zu verfolgen? Sie haben das wahrscheinlich nicht im Voraus geplant?„Das habe ich überhaupt nicht geplant. Weil sie mich einfach fasziniert hat und weil ich sie sehr gerne hatte, habe ich sie einfach immer wieder besucht – und so hat sich das dann eben ergeben.“
Sie haben in Prag studiert, dann auch ein Postgraduiertenstudium gemacht, danach mussten Sie aber die Tschechoslowakei verlassen…
„Ja, die musste ich dann verlassen. Ich habe dieses Postgradualstudium eigentlich gemacht, damit ich die Aufenthaltsbewilligung noch erhalte. Aber nach dem Postgradualstudium in dem Jahre 1983 habe ich keine Aufenthaltsbewilligung mehr gekriegt. Deshalb musste ich – so eigenartig das auch klingt für viele Leute – Prag verlassen und nach Zürich gehen.“Haben Sie auch danach Prag besucht, oder war das nicht mehr möglich?
„Doch, das war möglich, einfach mit einem Touristenvisum konnte man – glaube ich – sogar jederzeit anreisen, aber eben nur für eine beschränkte Zeit, und man musste auch Valuta wechseln. Es war für mich nicht so ganz einfach, weil ich in der Schweiz arbeiten musste und nicht so viel Ferien hatte.“Haben Sie auch in der Schweiz ähnliche Themen wie hier in der Tschechoslowakei gefunden? Sie haben nicht nur die erwähnte Lebensgeschichte der Libuna fotografiert, sondern auch die Prager Straßen, das Alltagsleben in der Tschechoslowakei. Da hätte sich ein Vergleich angeboten…
„Wenn ich Zeit gehabt habe, bin ich wieder nach Prag gereist.“
„Ganz bestimmt hätte sich ein Vergleich angeboten. Nur als ich mit 30 Jahren wieder in Zürich gelandet bin, musste ich mich sehr um meine Existenz kümmern. Das heißt, ich musste überhaupt Geld verdienen, Auftragsarbeiten machen, um mich mit der Fotografie zu ernähren. Das war nicht so einfach, weil ich alle Kontakte eigentlich in der Tschechoslowakei hatte, so dass ich für meine freien Kreationen in der Schweiz keine Zeit hatte. Wenn ich Zeit gehabt habe, bin ich wieder nach Prag gereist.“
Sie haben damals Menschen am Rande der Gesellschaft fotografiert. Interessieren Sie sich immer noch für dieses Thema?„Ich habe mich immer für Charaktere interessiert, ob sie jetzt am Rande der Gesellschaft sind oder nicht. Der Schneider Sláma aus dem Prager Stadtviertel Žižkov war zum Beispiel eine sehr originelle Person. Und die Libuna ist einfach ein unglaublich starker Charakter gewesen. Ob sie am Rande der Gesellschaft waren oder sind, hat mich eigentlich nie so interessiert.“
Haben Sie Ihre Bilder auch in der Schweiz ausgestellt, die Bilder aus der Tschechoslowakei und aus Tschechien?
„Ich hatte letztes Jahr eine große Ausstellung in der Schweiz, in der Fotostiftung Winterthur, wo ich auch die Libuna gezeigt habe und einen Teil der Fotos, die auch hier jetzt ausgestellt sind. Die Leute in der Schweiz haben auf alle diese Bilder sehr stark reagiert.“Sie kamen in den 1990er Jahren noch in einer anderen Rolle nach Tschechien, und zwar als Leiterin der Stiftung Pro Helvetia Prag. Was haben Sie in dieser Funktion gemacht?
„Als Stiftung Pro Helvetia Prag konnten wir mit Geld der Schweiz tschechische kulturelle Projekte unterstützen. Das war so eine Art Hilfsprogramm nach der Wende. Die Schweiz hat die Visegrad-Länder mit relativ viel Geld unterstützt, und ein kleiner Teil dieses Geldes ging auch in die Kultur, und diesen Teil der Gelder hat die Kulturstiftung Pro Helvetia verwaltet. Wir hatten ein Budget, und wir konnte viele kleinere oder auch größere Projekte unterstützen, die keinen Bezug zu der Schweiz haben mussten.“
Sie leben heute als freischaffende Fotografin. Finden Sie in Prag, in Tschechien immer noch so starke Themen wie damals?„Ja, zweifellos gibt es hier sehr, sehr interessante Themen. Wenn ich Zeit habe, fotografiere ich viel.“
Die Ausstellung „Iren Stehli – Libuna und weitere Essays“ ist im Haus der Fotografie der Galerie der Hauptstadt Prag zu sehen, und zwar noch bis 24. Januar 2016. Im Prager Verlag Torst wird außerdem die tschechische Übersetzung des Buches „Libuna - A Gypsy's Life in Prag, Das Leben einer Zigeunerin in Prag“ herausgegeben, der Band ist 2004 im Scalo-Verlag in Zürich erschienen.