Ist Tschechien vom "Brain Drain" bedroht?

Foto: Europäische Kommission
0:00
/
0:00

Der "Brain Drain" ist ein inzwischen viel genutzter und vielen verständlicher Anglizismus. Gemeint ist damit der Verlust an Wissen, Erfahrung und Fachkompetenz, den ein Land durch Migration erfährt. Tatsächlich ist er für viele das Schreckgespenst der modernen Wissensgesellschaft und eine mögliche Quittung für das schlechte Abschneiden im internationalen globalen Wettbewerb um die hellsten Köpfe. Während in Deutschland die anhaltende Diskussion um Elite-Universitäten zum Teil als Reaktion auf diesen Wettbewerb betrachtet werden kann, stellt sich natürlich die Frage, wie unsere Nachbarn und in diesem Kontext auch Konkurrenten, im Wettlauf um die wissenschaftlichen Eliten abschneiden. Zur folgenden Ausgabe unseres Magazins Forum Gesellschaft heißt sie Chris Schmelzer recht herzlich willkommen und geht für Sie der Frage nach, inwieweit auch die tschechische Gesellschaft vom "Brain Drain" betroffen ist.

Foto: Europäische Kommission
In Zeiten des bereits 1998 eingeleiteten europaweiten Bologna-Prozesses, der das Ziel hat, die europäische Hochschullandschaft schrittweise zu vereinheitlichen und die Mobilität der Studenten sowie des hoch qualifizierten Nachwuchses und der wissenschaftlichen Spitzenkräfte zu erhöhen, verschärft sich auch schrittweise der internationale Konkurrenzkampf um diese. Gelockt wird mit modernster Labor-Ausstattung, einer günstigen Rechtslage für die Forschung und nicht zuletzt mit dem schnöden Mammon. Gerade der finanzielle Aspekt spielt dabei für viele die wohl größte Rolle bei der grenzüberschreitenden Wahl des Arbeitsplatzes. Denn die europa- und weltweiten Unterschiede in der Bezahlung für hochqualifizierte Arbeitskräfte sind enorm. Die Tschechische Republik führt derzeit keine Statistik über die Zahl der Aus-wanderungen von hochqualifizierten Arbeitskräften, und Josef Benes von der Abteilung für "Höhere Bildung" des tschechischen Bildungsministeriums sieht dafür auch keinen alarmierenden Grund:

"In der Tschechischen Republik gab es eine Reihe von Auswanderungs-Wellen in Richtung Westen. So war vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg bzw. im Jahre 1948 und im Jahre 1968 eine verstärkte Auswanderung zu beobachten. Seit der Samtenen Revolution jedoch gibt es keinen dramatischen Anstieg in der Zahl der Auswanderungen in Richtung West-Europa oder USA."

Trotzdem gesteht auch Josef Benes ein, dass es einen konstanten Auswande-rungsfluss gibt und dass dieser, wenn auch kein dramatisches, aber immerhin ein mittelschweres Problem für die tschechische Gesellschaft darstellt:

"Es ist kein Problem bezüglich der Gruppe der hochqualifizierten Menschen, sondern ein generelles, und es ist kein Problem der letzten Jahre, sondern ein mehr als hundert Jahre altes, dass die Leute aus unserem Land nach Westeuropa oder in die USA auswandern. Ich denke aber, gerade jetzt ist es ein europaweites Problem, dass es die bestqualifizierten Kräfte in die Länder zieht, die in technischer Hinsicht am weitesten entwickelt sind."

Klar unterschieden werden muss dabei jedoch zwischen den jungen Wissenschaftlern, die um der Erfahrung willen in einem anderen Land studieren oder arbeiten und denjenigen, die bis zu einem gewissen Grad dazu genötigt werden. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die für effiziente Forschung notwendigen Bedingungen nur im Ausland vorzufinden sind, oder wenn sie in ihrem Land ganz einfach um ein Vielfaches weniger verdienen als im Ausland. Während heute in Tschechien die Löhne für besonders qualifizierte Arbeitskräfte in den wirtschaftlich orientierten Branchen bereits ein hohes Niveau erreicht haben, werden vor allem Berufsgruppen, deren Einkommen von staatlicher Seite reguliert oder direkt gezahlt werden, oft unverhältnismäßig schlecht vergütet. Vor allem Humanmediziner und Lehrer an staatlichen Krankenhäusern bzw. Schulen sowie Hochschullehrer werden im inländischen Vergleich von Berufsbildern äußerst schlecht bezahlt. Setzt man diese, unter Berücksichtigung der niedrigeren tschechischen Lebenshaltungskosten, schon im Inland nicht dem Grad der Ausbildung entsprechenden Bezahlung, in einen internationalen Kontext, dann wird der Hauptgrund für die Migration umso deutlicher. Warum sollte z.B. ein gut ausgebildeter Doktor der Humanmedizin, der womöglich noch fließend Englisch oder Deutsch spricht, nicht einfach in das europäische Ausland auswandern um dort das Fünf- bis Zehn-Fache zu verdienen? Die Antwort auf diese Frage ist einfach. Zum einen sind die Tschechen ein relativ unmobiles Volk, was die Bereitschaft angeht, für einen Arbeitsplatz in eine andere Stadt oder gar in ein anderes Land zu ziehen, und zum anderen wird vielerorts mit einer anhaltenden Verbesserung der finanziellen Situation des Staates und somit auch seiner Angestellten gerechnet. Experten rechnen daher für die nächsten zehn Jahre mit einer im Bezug auf die neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten vergleichsweise niedrigen Auswanderungsquote für die Tschechische Republik. So zeigen sich vor allem die Polen als deutlich mobiler, wird für sie doch mit einer doppelt so hohen Auswanderungsquote gerechnet. Trotzdem verlassen auch die Tschechen aus beruflichen Gründen ihr Heimatland, und gerade die bereits angesprochene Berufsgruppe der Ärzte ist davon stärker betroffen als andere. Dazu Lenka Grohova von der tschechischen Ärztekammer:

"Ja, die Ärzte verlassen das Land, denn die Arbeits- und finanzielle Situation ist hier einfach schlechter als in den alten EU Mitgliedsstaaten. Im letzten Jahr händigten wir etwa 500 der für eine Anstellung im Ausland notwendigen Zertifikate an tschechische Ärzte aus. Natürlich arbeiten nicht alle dieser Ärzte in-zwischen im Ausland. Dieses Jahr scheint sich die Zahl der Anfragen zu verdoppeln."

Derzeit arbeiten gerade einmal 327 tschechische bzw. tschechoslowakische Ärzte in der Bundesrepublik. Aber den von der tschechischen Seite angesprochenen Trend kann auch Dr. Thomas Kopitsch von der Bundesärztekammer bestätigen.

"Beispielsweise ist im letzten Jahr die Zahl der tschechischen Ärzte, die in ost-deutschen Krankenhäusern tätig geworden sind, um 150 Prozent gestiegen"

Foto: Europäische Kommission
Während diese Tatsache für die deutsche Seite einem Segen gleichkommt, da vor allem in ost-deutschen Krankenhäusern seit Jahren ein Ärztemangel herrscht, ergibt sich für die tschechische Seite durch die Migration der Human-mediziner eine etwas andere Situation. Denn junge tschechische Absolventen möchten erst einmal den Berufseinstieg in ihrem Heimatland finden und orien-tieren sich erst dann neu, wenn sie durch ihre Berufserfahrung für die tschechische Gesellschaft besonders wertvoll geworden sind. So auch Lea Matouskova, eine junge Medizinstudentin, die in wenigen Wochen ihren Doktortitel erhält.

"Ich kann mir vorstellen, dass ich ihm Ausland arbeiten werde, zum Beispiel in Deutschland oder in Schottland. Zuerst aber will ich einige Erfahrungen sammeln und dann werde ich sehen, ob ich zufrieden bin oder nicht."

Und genau an dieser Stelle sieht die tschechische Ärztekammer eines der Hauptprobleme der Migration.

"Der Staat hat zur jetzigen Zeit noch keine Maßnahmen ergriffen, denn der Verlust von Ärzten aus der Tschechischen Republik durch Emigration wird aufgewogen von einem vermehrten Zufluss junger slowakischer Ärzte. Dies ist ein Problem, denn die erfahrenen Ärzte verlassen das Land und der Ersatz für sie sind meist junge Absolventen aus der Slowakei "

Dies leuchtet ein, denn bei allem Respekt vor den jungen Absolventen: Den Verlust an Erfahrungen durch den Verlust routinierter Ärzte können sie nicht aufwiegen. So stellt sich die Frage, wie sich dieser Trend weiter entwickeln wird, wenn in Zukunft die derzeit noch geltenden Übergangsregeln für den freien Verkehr von Arbeitskräften zwischen den neuen und alten EU-Mitgliedern, enden wird. Dazu noch einmal Dr. Thomas Kopitsch von der Bundesärztekammer:

"Das hängt natürlich davon ab, wie sich die Einkommensentwicklung in Tschechien selbst darstellt, denn sechs Jahre sind eine lange Zeit und wir wissen ja auch, dass die ökonomische Aufholjagd begonnen hat. Das heißt, dass in den nächsten sechs Jahren das Einkommen in Tschechien natürlich drastisch ansteigen wird und dann stellt sich die Frage, ob die Lohndifferenzen noch so hoch sind, dass es zu einer erheblichen Wanderungsbewegung kommen wird."

Ähnlich gelassen sieht das auch Ivan Wilhelm, Rektor der Prager Karls Universität. Er geht zwar davon aus, dass die Zahl der Auswanderer zusammen mit der allgemeinen Mobilität der gut ausgebildeten Tschechen in den nächsten Jahren ansteigen wird, jedoch erwartet er diese Entwicklung auch innerhalb der anderen EU Mitgliedsstaaten, deren High-Professionals es dann im Idealfall wiederum nach Tschechien ziehen könnte, um die hiesige wissenschaftliche Landschaft zu bereichern. Doch damit dieses wünschenswerte Szenario eintreten kann, muss noch einiges geschehen, sodass die wissenschaftliche Landschaft in Tschechien für Ausländer attraktiver wird. Ivan Wilhelm ist optimistisch:

"Die Situation in der Beziehung zwischen Regierung und den hochqualifizierten Arbeitskräften bzw. der Forschung verbessert sich zwar langsam, aber sie verbessert sich."