Jan Sokol: Die Stimme der tschechisch-deutschen Aussöhnung

Jan Sokol
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Jan Sokol, Dekan an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität, kandidierte 2003 bei der tschechischen Präsidentschaftswahl. Er blieb jedoch erfolglos - womöglich auch, weil sein Engagement für tschechisch-deutsche Aussöhnung von manchen Parlamentariern misstrauisch betrachtet wurde. Derzeit finden auch in Tschechien Feierlichkeiten zum 60. Jubiläum des Kriegsendes statt. Dies gab Gerald Schubert Anlass, mit Jan Sokol über die nachbarschaftlichen Beziehungen innerhalb der Europäischen Union zu sprechen:

Gegenwärtig gibt es zwei interessante Punkte im tschechisch-deutschen, respektive tschechisch-österreichischen Verhältnis. Es wird gerade in ganz Europa das sechzigjährige Jubiläum des Endes des zweiten Weltkrieges gefeiert, und wir sind im ersten vollen Jahr der EU-Mitgliedschaft Tschechiens. Können Sie diese beiden Punkte einander gegenüberstellen? Die weltpolitische Lage ist jetzt natürlich eine ganz andere als vor sechzig Jahren. Gilt das aber auch für Dinge wie kollektives Unterbewusstsein oder Mentalitäten? Ändert sich so etwas ebenfalls schnell, oder passieren die Änderungen doch eher nur an der Oberfläche?

"Unter Nachbarn sind die Beziehungen immer etwas schwieriger. Wir werden etwa nie Schwierigkeiten mit Kolumbien haben. Auch der Größenunterschied spielt eine Rolle. Die Tschechen haben manchmal das Gefühl, dass die deutschsprachige Umgebung so groß und übermächtig ist, dass man lieber etwas auf der Hut sein sollte. Ansonsten aber scheint mir, dass die Beziehungen heute ganz gut verlaufen. Man darf nicht alles, was in der Zeitung steht, so genau nehmen. Und zu der Lage jetzt, sechzig Jahre nach Kriegsende: Ich bin ganz froh, dass der Krieg jetzt wiederum in Erinnerung gerufen wird. Nicht deshalb, weil man hetzen sollte. Das wäre ganz falsch. Aber mir scheint, dass heute viele Leute vergessen, dass so etwas wie Krieg immer möglich ist. Viele haben das Gefühl, der Frieden ist gesichert, und anders kann das gar nicht sein. Auch in der Europapolitik wird heute oft um Lappalien gestritten, und man nimmt dabei die Warnung des Krieges nicht ernst genug. Aus diesem Grund ist es meiner Meinung nach wichtig, sich diese Ereignisse wieder einmal in Erinnerung zu bringen."

Das bilaterale Verhältnis innerhalb der Europäischen Union ist ein bisschen janusköpfig. Man ist einerseits gemeinsam in einem übergeordneten Gebilde, andererseits aber stirbt ja das bilaterale Element nicht ganz. Würden Sie dem zustimmen, oder sehen Sie ein Ende der bilateralen Politik?

"Nein, bilaterale Politik wird auch in Zukunft sehr wichtig sein. Schon allein deshalb, weil zwischen uns die Sprachgrenze liegt. Die wird in der Politik sehr oft unterschätzt. Der deutsche Soziologe Niklas Luhmann hat die Gesellschaft sehr trefflich charakterisiert als das Umgreifende aller Kommunikationen. Und wo man nicht kommunizieren kann, dort kommen Ereignisse eines anderen Typs, sagt Luhmann. Aus diesem Grund wird es immer multilaterale Beziehungen geben - auch innerhalb der EU. Die EU kann nie ein Melting Pot werden wie die USA. Wir etwa werden uns immer als Tschechen fühlen - gegenüber anderen, die eine andere Sprache sprechen."

Wir haben dieses Jahr noch ein kleines Jubiläum: Wir schreiben das Jahr 2005. Es gibt hier den Begriff Smírení '95, das heißt Versöhnung '95. Vor zehn Jahren gab es nämlich einen Aufruf von tschechischen Intellektuellen, die tschechisch-deutschen Beziehungen besser und effektiver zu gestalten. Sie waren damals einer der Signatare. Worum ging es damals konkret?

"Das eigentliche Anliegen war ein Aufruf an die Tschechen, auch über sich selbst und die eigene Geschichte nachzudenken und sich endlich einzugestehen, dass unsere Vorfahren auch ein paar schöne Schweinereien gemacht haben. Ich habe immer gesagt, dass die Vertreibung eine Schandtat war. Zugleich aber kann man heute daran nichts mehr ändern. Diese beiden Aspekte waren mir wichtig. Hier wurde deshalb in den Medien Krawall geschlagen. Aber ich muss sagen: Seit dieser Zeit hat mir das niemand vorgeworfen. Nur bei der Präsidentschaftswahl wurde daraus ein Argument gemacht - aber solche Argumente findet man immer. Sonst aber hat mich niemand persönlich angegriffen. Und schon deshalb glaube ich, dass das damals nicht so ganz ins Leere gelaufen ist."

Und Jetzt? Würden Sie jetzt sagen, dass die gesellschaftlichen Voraussetzungen in Tschechien und in den bilateralen Beziehungen noch soweit dieselben sind, dass dieser Aufruf auch heute noch Gültigkeit hat?

"Seit damals ist hier viel passiert. Es sind manche Bücher, manche Aufsätze zu dem Thema erschienen, und es gab ganz scharfe Debatten. Man kann heute schon alles Mögliche ganz laut sagen, und das ist wichtig. Man muss ja nicht mit allem einverstanden sein. Einen gewissen Unterschied in der Wertung dessen, was 1938, 1945 oder 1946 geschah, wird es immer geben. Aber dass auch die Tschechen sich nicht nur als saubere, reine Sieger des Weltkrieges fühlen können, das ist glaube ich heute jedem klar."