Johann Stüdl – Alpenpionier aus Prag
Die Alpen sind wahrscheinlich nicht das erste, was einem in den Sinn kommt, wenn man an Prag denkt. Doch eben da wuchs der Begründer des organisierten Alpinismus auf: Johann Stüdl. Er gilt heute als einer der größten Unterstützer des Bergsteigens, und Prag und Osttirol sind aufgrund der Aktivitäten des tschechischen Bergpioniers seit Mitte des 19. Jahrhunderts miteinander verbunden.
Der Alpinist Ladislav Jirásko stieß vor mehr als 20 Jahren auf Johann Stüdl und begann, Nachforschungen über den Prager Kaufmann anzustellen. Dieser habe schon früh Wanderungen im Böhmerwald unternommen und so seine Liebe für die Berge entdeckt. In die Alpen habe ihn sozusagen das Schicksal verschlagen: Stüdl sei oft krank gewesen, Rücken- und Atemprobleme hätten ihm sehr zu schaffen gemacht. Um sich zu erholen, sei er dann 1861 in einen Kurort im Berchtesgadener Land gereist. Laut Ladislav Jirásko sei dieser Aufenthalt nicht ohne Folgen geblieben:
„Seit diesem ersten Besuch konnte er die schönen Berge nicht mehr vergessen. Zurück in Prag musste er ständig an sie denken, und sie sollten fortan sein weiteres Leben bestimmen. So entstand seine Verbindung zu den Alpen und entwickelte sich allmählich weiter.“1864 unternahm Stüdl schließlich mit zwei Prager Freunden seine erste Hochgebirgstour: die Überschreitung des Schwarzensteingletschers vom Zillertal ins Ahrntal. Stüdl und seinen Gefährten gelang dieser Übergang zum ersten Mal ohne Seil. Auf dem Rückweg stürzte ihr Führer jedoch in eine Gletscherspalte und kam ums Leben. Dieser Unfall veranlasste Stüdl, die Gründung eines Bergführervereins in der k.u.k. Monarchie voranzutreiben. Dieser sollte Sicherheitsstandards und Vergütungen der Begleiter festlegen.
„Die Einheimischen kannten sich sehr gut in den Bergen aus, und Stüdl gründete mit diesen den ersten Bergführerverein. Das war eine seiner Pionierarbeiten. Die Bergführer wurden auf diese Weise schon in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Touristenführern, das war ein völlig neuer Beruf“, sagt Jirásko.Und von Jahr zu Jahr kamen immer mehr Touristen als zahlkräftige Kunden in die Alpen. Dies führte dazu, dass sich der Lebensstandard der meist armen Bergleute stetig verbesserte.
Im August 1867 reiste Johann Stüdl gemeinsam mit seinem Bruder Franz in die Hohen Tauern. Die beiden hatten sich zum Ziel gesetzt, den Großglockner zu besteigen, den mit 3798 Metern höchsten Berg und zugleich bekanntesten Wahrzeichen Österreichs. Die Brüder kamen so erstmals in die kleine Glocknergemeinde Kals. Auch wenn die geplante Besteigung aufgrund schlechten Wetters vorerst fehlschlug, war 1867 das große Jahr in Stüdls Bergsteigerleben: Er erklomm den Großvenediger (3674 Meter) und weitere Berge der Hohen Tauern sowie der Ötztaler Alpen.
„Stüdl blieb auf der Kalser Seite des Großglockners und lernte daher die Gegend rund um die Gemeinde immer besser kennen. Er hat damals schon verkündet: ‚Hier wird eine Hütte stehen‘. Der Grat ist mittlerweile auch nach ihm benannt: ‚Stüdlgrat‘. Es sollte der kürzeste Weg zum Großglockner werden“, so Jirásko.Der Prager Kaufmann wurde von den Bewohnern in Kals damals herzlich aufgenommen. In der örtlichen Wirtsstube erfuhr er auch von deren Plänen, den mühseligen Aufstieg zum Großglockner durch eine Unterkunftshütte zu erleichtern. Den Kalsern fehlten jedoch die finanziellen Mittel. Stüdl sagte ihnen seine Unterstützung zu und leitete das Vorhaben in die Wege, er wählte sogar eigens den Platz der Hütte aus. Am 15. September 1868 wurde die Schutzhütte feierlich eingeweiht und „Stüdlhütte“ getauft. Diesen Namen trägt sie bis heute – und Stüdl wurde fortan „der Glocknerherr“ genannt.
Nach seinem dritten Besuch in Kals hatte Stüdl bereits im Kopf, die wachsende Bergsteiger-Bewegung besser zu organisieren. Im Jahre 1862, also fünf Jahre vor seinem ersten Besuch in Kals, wurde in Wien der Österreichische Alpenverein (ÖAV) gegründet. Diesem gehörte von Anfang an auch Johann Stüdl an. Der Verein widmete sich jedoch vor allem wissenschaftlicher Forschung und weniger praktischen Tätigkeiten.1869 gründete Johann Stüdl schließlich gemeinsam mit seinen Wegbegleitern Karl Hofmann, Franz Senn und Theodor Trautwein den Deutschen Alpenverein (DAV). Anders als das österreichische Pendant war dieser nicht zentralistisch organisiert, sondern in Sektionen gegliedert. Diese Sektionen wählten ihre jeweiligen Arbeitsgebiete in den Alpen und erschlossen auf diese Weise auch entlegene Gegenden. 1870 rief Stüdl, der sich inzwischen wieder in Prag um den Kaufmannsladen kümmern musste, die Sektion Prag ins Leben. Es war der erste organisierte Bergsteigerverein in Böhmen. Ladislav Jirásko betont, dass die von Stüdl gegründete Sektion von besonderem Erfolg gekrönt gewesen sei:
„In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Sektion Prag nach München und Wien die drittgrößte Sektion und sogar die reichste. Sie besaß elf Hütten, deren Errichtung von Prag aus in Auftrag gegeben worden war und die von dort aus verwaltet wurden. Stüdl war ein Organisationstalent, und die Sektion Prag hatte viele Fans.“Die Fans kamen nicht nur aus Prag, sondern auch aus Deutschland und Österreich. Die Pläne für die Hütten fertigte Johann Stüdl meist eigenhändig an – er war von jeher ein begabter Zeichner und Maler gewesen. 50 Jahre lang stand er allein der Sektion Prag vor. 1873 fusionierten die beiden großen Alpenvereine zum Deutschen und Österreichischen Alpenverein (DuÖAV) und arbeiteten bis Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen.
Für Johann Stüdl brach nach Ende des Ersten Weltkrieges eine schwere Zeit an, denn Tschechische Freunde hatten sich wegen des aufkommenden Nationalismus von ihm abgewandt.„Nach der Entstehung der Tschechoslowakei 1918 war der Nationalismus in der Bevölkerung so stark, dass sich einige tschechischen Freunde von Johann Stüdl entfernten. Er hat sich daher entschieden, von Prag nach Salzburg umzusiedeln“, erklärt Jirásko.
In der Mozart-Stadt wohnte bereits sein Sohn Max und dessen Familie. Stüdl folgte ihnen schweren Herzens und verließ Prag im Jahre 1919. Der mittlerweile 80-jährige Alpenvisionär sorgte sich selbst von Salzburg aus noch um den Zustand der auf ihn getauften Hütte. Diese war während des Ersten Weltkrieges nicht bewirtschaftet worden und stark beschädigt. Mittlerweile war Stüdl allerdings kein wohlhabender Kaufmann mehr, denn sein Geschäft in Prag hatte er unter Wert verkaufen müssen. Er bat daher den Deutschen und Österreichischen Alpenverein um Hilfe. Seinem Ersuchen wurde großzügig Folge geleistet, und bereits 1921 besichtigte Stüdl die sanierte Hütte in Kals.
Am 29. Januar 1925 verstarb Johann Stüdl im Alter von 85 Jahren in Salzburg. In Kals am Großglockner ist der Alpenpionier jedoch immer noch präsent: zum einen durch den Stüdlgrat und die Stüdlhütte, zum anderen wurde er bereits 1870 Ehrenbürger von Kals. In seiner Heimatstadt Prag hingegen erinnert nichts an den Bergpionier. Ladislav Jirásko wollte daher eine kleine Gedenktafel am Elternhaus auf der Kleinseite anbringen lassen, scheiterte jedoch an den Behörden. Im vergangenen Jahr nun widmete er dem Bergpionier ein Buch sowie einen Dokumentarfilm, der an Originalschauplätzen gedreht wurde.Johann Stüdls Vermächtnis hat eine ganze Region in Europa verändert: Die Alpen sind heute ein Touristenmagnet und größtenteils erschlossen. Darunter leiden allerdings auch Natur und Umwelt. Genau dies befürchteten einige Alpenvereinsmitglieder bereits zu Stüdls Lebzeiten: Sie warnten damals vor einer Übererschließung des Hochgebirges in der Mitte Europas.