„Kleine und individuelle Erzählungen über die große Geschichte“ - Erinnern in der Literatur

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Am Mittwochabend war das Podium im Goethe-Institut Prag prominent besetzt. Auf Einladung der Tschechischen Akademie der Wissenschaften waren drei Schriftsteller zu Besuch. Radka Denemarková, Oksana Sabuschko und Thomas Medicus sollten über kulturelles Gedächtnis und transgenerationelles Erinnern diskutieren.

Alexander Kratochvil  (Foto: Archiv von Alexander Kratochvil)
Die Diskussionsrunde war Abschluss der wissenschaftlichen Vortragsreihe „Literatur – Trauma – kulturelles Gedächtnis“, die vom Institut für tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften veranstaltet wurde. Alexander Kratochvil hat die Vortragsreihe organisiert und moderierte den Abend im Goethe-Institut:

„Die Vortragsreihe hat sich mehr an ein wissenschaftliches Publikum gewandt. In den einzelnen Vorträgen wurden unterschiedliche Methoden und Ansätze der Erforschung und der Theoriebildung im Bereich der Erinnerungskultur behandelt. Heute dagegen sollte die Literatur selbst aus dem Mund der Autoren zu Wort kommen.“

Angelika Eder  (Foto: Archiv des Goethe-Instituts)
Die Leiterin der Kulturabteilung im Goethe-Institut Prag, Angelika Eder, war gerne bereit, der Diskussion ein Forum zu bieten:

„In den letzten Jahren ist einfach sehr viel Literatur in den verschiedenen Ländern Mittel- und Osteuropas zum Thema Erinnerung erschienen. Vor allem die jüngeren Autorinnen und Autoren haben da einfach Großartiges geleistet und auch uns Lesern dann, teilweise in Übersetzung, ganz neue Zugänge zu historischen Themen, zu Erinnerungsthemen geliefert. Deswegen fand ich die Idee, Schriftsteller aus diesem Themenfeld zusammenzubringen, sehr schön.“

Deswegen drei Schriftsteller aus drei mitteleuropäischen Ländern. Die Tschechin Radka Denemarková hat 2006 das Buch „Peníze od Hitlera“ verfasst, es ist 2009 in Deutschland unter dem Titel „Ein herrlicher Flecken Erde“ erschienen. Die Handlung dreht sich um das jüdische Mädchen Gita Lauschmannová, das 1945 aus einem Konzentrationslager in seine tschechische Heimat zurückkehrt. Dort muss Gita erfahren, wie sie und ihre Familie erneut verfolgt werden – diesmal durch Tschechen, die sie für deutsche Kollaborateure halten.

Foto: Droschl Verlag
Oksana Sabuschko hat „Museum der vergessenen Geheimnisse“ geschrieben – ein Gesellschaftsporträt der Ukraine. Anhand des Lebens dreier Frauen erzählt sie die Geschichte der Ukraine im 20. Jahrhundert, sowohl unter sowjetischer Herrschaft und während der deutschen Besatzung als auch seit der Unabhängigkeit.

Thomas Medicus wiederum hat das bekannte Buch „In den Augen meines Großvaters“ veröffentlicht. Er spürt darin der Geschichte seines eigenen Großvaters nach, der 1944 in Italien als Generalmajor der Wehrmacht von Partisanen erschossen wird.

Die Diskussion im Goethe-Institut drehte sich aber nicht explizit um die Werke der drei Schriftsteller, sondern um Literatur und ihren Zugang zur Vergangenheit. Für Radka Denemarková ist es zum Beispiel gar nicht möglich, zu schreiben, ohne die Vergangenheit zu beachten:

Radka Denemarková  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Selbstverständlich trägt jeder Mensch die Vergangenheit mit sich herum. Von Geburt an ist der Mensch nicht frei, denn er ist in einem Land geboren, das eine Vergangenheit hat. Dieses Land bringt die Muttersprache mit, die Religion und eine bestimmte Sicht auf die Welt. Dadurch sagt die Gesellschaft dem Mensch, so oder so sei der Sinn des Lebens und so und so müsse man es leben. Ein jeder wird also von der Mentalität der Nation beeinflusst, in die er geboren wurde. Ich bin in Tschechien geboren, in Mitteleuropa, und das hat mich auf eine bestimmte Art von Kindheit an geformt, ohne das ich es wollte.“

Thomas Medicus  (Foto: Archiv des Literaturhauses Stuttgart)
Kann der Schriftsteller also nicht umhin, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen? Thomas Medicus glaubt, dies hänge von den kollektiven historischen Erfahrungen eines jeden Landes ab:

„Es kommt wohl drauf an, in welchem Land und welcher Kultur ein Schriftsteller aufgewachsen ist. Wenn er in Deutschland aufgewachsen ist, wird er wahrscheinlich nicht um den Nationalsozialismus herumkommen. Wenn aber jemand in Schweden aufgewachsen ist, liegt der Fall vielleicht ein bisschen anders. Es gibt Nationen, die ganz spezifische und auch sehr konsistente Narrative ausgeprägt haben. Bei Nationen wiederum, die eher am Rande des Geschichtsverlauf standen, ist es anders, oder da sind diese Narrative nicht transnational wirksam.“

Oksana Sabuschko  (Foto: Sevela.p,  Wikimedia CC BY-SA 2.5)
In Medicus Fall war der Bezug zur Vergangenheit klar, er schrieb einen Roman über die Geschichte seines Großvaters. Oksana Sabuschko beschreibt den Weg des Autors zu seinem Thema eher lyrisch. Es sei ein „essentielles Jucken“, das den Schriftsteller antreibe, weniger die systematische Suche. Und Thomas Medicus glaubt, dass der Erfolg eines historischen Stoffes bei den Lesern von der Geschichtsaufarbeitung der jeweiligen Nation abhänge. In der Ukraine sei zum Beispiel die Hungersnot nach der Kollektivierung in den 1930ern ein Reizthema:

„Bei der Ukraine ist es so, man merkt es ja am Roman von Oksana, dass der Holomodor eine sehr große Rolle spielt – genauso wie auch Stepan Bandera und die antisowjetische Partisanenbewegung, die zum Teil mit den Deutschen kollaboriert hat und das für eigene Zwecke instrumentalisiert hat. Man sieht daran, dass Zeitgeschichte dann literarisch relevant ist, wenn es einen schwelenden Konflikt gibt. Nicht zufällig kommt ja immer der Begriff ‚Geheimnis’ vor. Es muss immer etwas zu Tage befördert werden. Ist es einmal zu Tage befördert, dann wird es zu einem Stoff für Fernsehspiele.“

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Nun ist es aber eigentlich die Aufgabe der wissenschaftlich arbeitenden Historiker, weiße Stellen und traumatische Momente in der Geschichte einer Nation aufzuarbeiten. Denemarková sieht die etablierte Wissenschaft aber eher als Mittel, sich ein Gerüst für die Vergangenheit zu schaffen. Die Aufgabe des Schriftstellers liege woanders:

„Sich selbst in die Zeit oder die Situation zu versenken und sich selbst zu fragen, und nicht auszuweichen und nach Antworten zu suchen. Das bedeutet emphatisch zu sein gegenüber den anderen und zu allem, das ist und sein kann. Ich habe sogar Menschen getroffen, die sich irgendwie fürchten darüber zu sprechen, dass ihre Erfahrungen, oder das was sie erlebt haben, völlig anders sind, als das, worüber die Historiker sprechen. Das bedeutet, dass die Erfahrungen theoretisiert werden.“

Norbert Gstrein  (Foto: Hpschaefer,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Empathie ist also das Schlüsselwort. Während der Historiker das Große nicht aus den Augen verlieren darf, kann sich der Schriftsteller dem Kleinen und der Welt der Emotionen widmen. Auch Oksana Sabuschko konnte davon berichten. Sie hatte ein langes Gespräch mit einem ehemaligen Partisanen geführt, um sich in die Welt und die Zeit dieser Kämpfer hineinfühlen zu können. Thomas Medicus aber relativiert die Arbeit mit Zeitzeugen ein wenig:

„Ich war ein paar Jahren mal auf einer Tagung, da war unter anderem auch der österreichische Schriftsteller Norbert Gstrein. Er hat gesagt: ‚Zeitzeugen? Damit will ich mich gar nicht beschäftigen. Die haben ihre Interessen und wollen einen beeinflussen.’ Das stimmt natürlich, aber man hat ja auch immer ein kritisches Bewusstsein, das man dazwischenschalten kann. Zeitzeugenaussagen müssen eben wie historische Quellen betrachtet und einer Quellenkritik unterzogen werden. Man muss sehr viel Material sammeln, unter anderem auch Zeitzeugenaussagen, ohne dass diese aber nun unbedingt verarbeitet werden. Es gibt dem Schriftsteller aber eine große Sicherheit, um sich in dieser Zeit aufhalten zu können.“

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In ihren Meinungen waren sich die Autoren im Großen und Ganzen einig. Alexander Kratochvil war dann auch mit dem Ergebnis der Diskussion sehr zufrieden:

„Beabsichtigt war sicherlich auch, im Gespräch der Schriftsteller zu hören, wo das besondere Leistungspotential der Literatur beim Erinnern von Traumata und Tabuthemen liegt. Das wurde sehr deutlich gesagt: dass Literatur im Gegensatz zur Wissenschaft in der Lage ist, kleine und individuelle Erzählungen über die große Geschichte anzubieten. In diesen kleinen Geschichten können sich eben Menschen wiederfinden, sich selbst sehen und identifizieren. In der Diskussion fiel ja auch der Begriff der Empathie, also das Miterlebens, was aber richtigerweise nicht mir Sympathie verwechselt werden darf. Aber das macht es möglich, eben auch ambivalenten Figuren, vielleicht auch negativen Figuren, so genannten Tätern, zumindest nahe zu kommen.“