Koalition schummelt bei Abstimmung – Opposition will vors Verfassungsgericht

Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks

Mitte vergangener Woche stimmte das tschechische Abgeordnetenhaus dafür, die Steuern auf Benzin und Diesel zu senken. Doch die Autofahrer duften sich nicht lange freuen, denn am Freitag ließen die Parteien der Regierungskoalition noch einmal über die Steuersenkungen abstimmen – diesmal wurden sie abgelehnt. Der Grund für die Wiederholung: Angeblich hatten am Mittwoch einige Abgeordneten der Regierung fälschlicherweise für die geringeren Steuern gestimmt. Die Opposition ist nun aufgebracht. Sie hält die Wiederholung des Votums nicht für zulässig – und hat eine Verfassungsbeschwerde angedroht.

Milan Urban  (Foto: David Sedlecký,  CC BY-SA 3.0)
86 Stimmen dafür, 52 dagegen - Vorschlag angenommen! So lautete das Ergebnis, als die Parlamentarier im tschechischen Abgeordnetenhaus am Mittwoch vergangener Woche über eine kontroverse Ergänzung zur Besteuerung von Mineralöl abstimmten. Im Regierungsvorschlag waren nur Steuererleichterungen für Bauern geplant gewesen. Doch dann gab es sozusagen „friendly fire“ vom Abgeordneten Milan Urban.

Der Sozialdemokrat brachte einen Änderungsvorschlag ein, der eine allgemeine Senkung der Steuern auf Treibstoff vorsah. Zur Freude der Autofahrer sollte die Belastung bei Benzin um umgerechnet fünf Eurocent je Liter zurückgehen und bei Diesel um neun Eurocent. Urban hatte den Vorschlag ausgearbeitet, obwohl der Chef seiner Partei, Premier Bohuslav Sobotka, eine solche Regelung kategorisch abgelehnt hatte – genauso wie Finanzminister Andrej Babiš von der Partei Ano. Trotzdem stimmten noch 16 weitere Sozialdemokraten für den Vorschlag und verhalfen so der Opposition zu einem Sieg gegen die Regierungskoalition.

Andrej Babiš  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Urbans Argument für die Steuersenkung lautet: Hohe Treibstoffpreise trieben viele Menschen dazu, im Ausland zu tanken. Würden die Preise aber sinken, kämen die Kunden wieder zurück. Doch Finanzminister Babiš zeigte sich entsetzt und wandte sich erbost an die Abweichler bei seinem sozialdemokratischen Koalitionspartner:

„Herr Urban hat hier einen völlig verantwortungslosen Änderungsvorschlag eingebracht, der den Staatshaushalt 14 Milliarden Kronen kosten wird. Ihr schüttet dieses Geld damit den Distributionsfirmen von Treibstoff in den Rachen, das erhalten nicht etwa die Autofahrer. Ihr versteht überhaupt nicht, worüber Ihr abstimmt. Ich würde empfehlen, dass Ihr euch informiert. Ich bin auch bereits, über den Vorschlag zu diskutieren. Aber mittlerweile sind die Treibstoffpreise in Tschechien im Vergleich zu den Nachbarländern die niedrigsten. Das heißt, von den 14 Milliarden Kronen haben nicht die Autofahrer etwas, sondern die Mineralölfirmen. Und wenn Ihr das nicht versteht, dann gebe ich Euch gerne eine Schulung.“

Ladislav Šincl  (Foto: Archiv des Abgeordnetenhauses des Parlaments der Tschechischen Republik)
In jedem Fall begannen die Koalitionspartner am Mittwochmittag nach einem Ausweg zu suchen. Sie beantragten eine Pause. Als die Abgeordneten nach über einer Stunde wieder an ihre Plätze zurückkamen, meldete sich der Sozialdemokrat Ladislav Šincl zu Wort:

„Es tut mir leid, mir ist ein Missgeschick passiert, und ich will gegen die Abstimmung über den Änderungsvorschlag von Milan Urban Einspruch erheben“, so Šincl.

Auf seiner Signalanzeige stehe ein Ja, er habe aber mit Nein stimmen wollen, so der Abgeordnete. Zugleich wolle er anmerken, dass er diesen Einspruch bereits unmittelbar nach der Abstimmung vorbringen wollte, so der Sozialdemokrat weiter. Doch habe sein Fraktionschef in dem Moment die Sitzung für eine Pause unterbrechen lassen, deswegen sei es zu der Verzögerung gekommen.

Zbyněk Stanjura  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Die Abgeordneten entschieden darauf, dass dem Einspruch stattgegeben werde und setzten eine neue Abstimmung für Freitag an. Bei dieser legte Milan Urban zwar erneut seinen Änderungsvorschlag vor, doch diesmal stimmten alle anderen Parlamentarier der Regierung dagegen.

Die doppelte Abstimmung brachte die Opposition auf die Barrikaden. Denn in der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses steht, dass gegen eine Abstimmung – so wörtlich - nur „im unmittelbaren Anschluss“ Einspruch erhoben werden könne. Deswegen kritisierte der Fraktionsvorsitzende der konservativen Bürgerdemokraten, Zbyněk Stanjura, noch während der Sitzung der Parlamentskammer den Abgeordnetenhausvorsitzenden Jan Hamáček, seines Zeichens ein Sozialdemokrat:

Tomio Okamura  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Sie können hier hundertmal behaupten, dass Sie hier absolut strikt nach der Geschäftsordnung vorgehen würden. Wenn aber 70 Minuten noch als unmittelbar im Anschluss durchgehen sollen, dann sind wir hier im Irrenhaus“, so Stanjura.

In den Gängen des Abgeordnetenhauses hatte zuvor die Runde gemacht, dass der sozialdemokratische Parteichef und Premier Sobotka bei der Fraktionsbesprechung in der Pause sehr laut geworden sei. Sobotka soll den Fortbestand der Koalition gefährdet gesehen haben. Angeblich lenkten erst dann die Abweichler ein. Tomio Okamura als Chef der oppositionellen Partei Úsvit richtete sich deswegen bei Wiederaufnahme der Sitzung mit folgenden Worten an die Regierungsabgeordneten:

Abgeordnetenhaus  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Sich erst nach ein, zwei Stunden daran zu erinnern, dass etwas falsch gelaufen ist – das klingt nach Betrug und Lüge. Wahrscheinlich ist bei Euch einfach ein Fehler geschehen, weil ihr Euch nicht abgesprochen habt. Aber was hier jetzt passiert ist, ist eine völlige Untergrabung der demokratischen Prinzipien dieser Republik.“

Die oppositionellen Bürgerdemokraten haben deswegen mittlerweile angekündigt, gegen die doppelte Abstimmung eine Beschwerde beim Verfassungsgericht einzureichen.

Jiří Hřebejk  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
Auch Rechtsexperten sind sich nicht klar darüber, wie weit das Vorgehen der Regierungskoalition noch von der Verfassung gedeckt ist. Jiří Hřebejk, Verfassungsexperte an der Prager Karlsuniversität:

„Hier geht es um den Paragrafen 76 der Geschäftsordnung im Abgeordnetenhaus und um die Auslegung des Begriffs ‚unmittelbar‘. Ich befürchte, dass sich allerdings die dortige Regelung auf reine Verfahrensfehler bezieht und nicht darauf, dass sich jemand bei der Abstimmung geirrt hat. Für den zweiten Fall gilt, dass die Sache eben entschieden ist. Und genau dies stört mich am meisten. Was bei einer Abstimmung entschieden wird, muss einfach gelten. Ein Richter kann auch nicht einfach so sein Urteil zurücknehmen, oder zumindest nur sehr schwer. Genauso kann nicht das Ergebnis eines Fußballspiels einfach annulliert werden. Das Spiel wird einmal gespielt, dann muss man das Ergebnis einfach akzeptieren.“

Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks
Hřebejk verweist auch darauf, dass der Gesetzgebungsprozess für die Steuersenkungen noch gar nicht abgeschlossen war. Obwohl im Abgeordnetenhaus bereits in der dritten und damit letzten Lesung entschieden wurde, muss danach noch der Senat als erste Kammer des Parlaments entscheiden:

„Der Senat kann dann die Novelle mit Änderungsvorschlägen zurück an das Abgeordnetenhaus schicken, das dann über diese Vorschläge abstimmen muss.“

Bohuslav Sobotka  (Foto: Archiv des Regierungsamtes der Tschechischen Republik)
Warum die Sozialdemokraten aber nicht diesen Weg gewählt haben, ist schleierhaft. Denn im Senat haben sie sogar die absolute Mehrheit. Tschechische Journalisten haben deswegen die Frage aufgebracht, wie weit Premier Sobotka als Vorsitzender der Sozialdemokraten überhaupt seine Partei im Griff habe.

Den Weg einer zweiten Abstimmung hält Jiří Hřebejk aber für einen gefährlichen Präzedenzfall. Damit werde der Begriff „unmittelbar“ ad absurdum geführt:

„Das ist ein Präzedenzfall. Jetzt ging es um eine Stunde, das nächste Mal könnten es bereits anderthalb Stunden sein, dann werden es drei Stunden - und irgendwann landen wir vielleicht bei zwei Tagen. Darin sehe ich die Gefahr des Präzedenzfalls.“

Aleš Gerloch ist ein Kollege von Hřebejk an der Karlsuniversität. Trotz der Bedenken über das Vorgehen hält er aber eine Verfassungsbeschwerde für wenig erfolgreich:

Aleš Gerloch  (Foto: Archiv der Karlsuniversität in Prag)
„Es wäre eine Verfassungsbeschwerde gegen eine Abstimmung im Abgeordnetenhaus. Da stellt sich die Frage, ob mit der Abstimmung das geschützte Recht einer konkreten Person eingeschränkt wurde. Da habe ich aber schwere Zweifel.“

Deswegen ist der rechtliche Aspekt der Ereignisse im Abgeordnetenhaus unter Umständen auch gar nicht der wichtigste. Vielmehr stellt sich die Frage, ob nicht der Zusammenhalt der Sozialdemokraten und damit der Koalition als Ganzes gefährdet ist. Ein Journalist der Tageszeitung Mladá fronta Dnes hatte genau diese Frage an die sozialdemokratischen Abgeordneten gerichtet, die für den Vorschlag von Urban gestimmt hatten. Sie wiesen allerdings die These zurück, dass sie etwa allgemein in Opposition zu Parteichef Sobotka stünden. Es sei ihnen vielmehr um die Sache gegangen. Nur die Entwicklung in den kommenden Monaten kann aber zeigen, ob die Aussagen auch wirklich so stimmen.