Kultur in der Praxis - wie gut können Rollstuhlfahrer das kulturelle Angebot Prags nutzen

Das Kulturangebot in Prag ist groß und vielfältig. Die Wege in der Stadt sind kurz, und der öffentliche Nahverkehr funktioniert gut. Daher ist die Innenstadt ein beliebter Treffpunkt der Menschen und hier pulsiert das gesellschaftliche Leben. Aber es können nicht alle gleich gut an dem gesellschaftlichen Leben teilhaben. Für Rollstuhlfahrer ist die Stadt voller Hindernisse, viele Gebäude sind nur über Treppen zu erreichen, und von den öffentlichen Verkehrsmitteln können sie nur wenige Linien und Haltestellen benutzen. Wie rollstuhlgerecht die Stadt und damit die Gesellschaft heute ist, was sich in den letzten Jahren verändert hat, und wie die Betroffenen sich damit fühlen, hören sie jetzt im Kultursalon, den Thorsten Herdickerhoff zusammengestellt hat.

David Drahoninsky ist Sportbogen-Schütze und Gymnasiast, und betreibt beides sehr erfolgreich. Als tschechischer Vertreter im Bogenschießen besuchte er schon mehrere internationale Wettkämpfe, unter anderem in Madrid. Bei den Paralympischen Spielen in Athen war er auch, allerdings vorerst noch als Zuschauer.

Bogenschießen erfordert ein hohes Maß an Konzentration und enorme Körperkraft. Auf der Sehne eines Bogens lasten 20kg Zug, die man beim Spannen des Bogens überwinden muss. Ungeübte kommen da schnell an ihre Leistungsgrenze. Für sie ist das Aufspannen des Bogens eine Zitterpartie, und nach dem zweiten Pfeil sind die Arme butterweich. David schießt in einem Wettkampf 144 Pfeile und spannt dafür 144 Mal die 20 Kilo mit seinen Armen auf - bei höchster Konzentration.

David ist sehr sportlich, dennoch ist seine Beweglichkeit beschränkt: Er sitzt im Rollstuhl. Damit ist auch seine Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit eingeschränkt, denn er kommt immer nur bis kurz vor die erste Stufe. Und wo es überall Stufen gibt, fällt Menschen die gehen können gar nicht immer auf. Menschen, die nicht gehen können, fällt das schon auf, und manchmal fühlt David sich regelrecht übergangen von den Planern des öffentlichen Raums.

"Ja, ich habe dazu ein Beispiel. In Athen gibt es noch ältere Sehenswürdigkeiten als in Tschechien. In Tschechien geht es nicht, einen Aufzug in die Schlösser einzubauen. Aber in Athen geht es ohne Probleme. Hier sind die Sehenswürdigkeiten etwa 700 Jahre alt, dort über 2000 Jahre. Dort geht es, in Prag geht es nicht. Ich meine, wenn es in Athen geht, so muss es in Prag auch gehen."

Trotz dieser Widrigkeiten, die im Vergleich besonders deutlich werden, geht David oft aus in Prag. Kino, Theater, Kneipen und Konzerte - das übliche Programm. Allerdings mag er nicht jedes Kino, und er geht auch nicht in jedes Theater. Bei den Theatern ruft er vorher an, sofern er sie noch nicht kennt, und fragt, ob es einen behindertengerechten Eingang gibt. Oft hat er Glück und kann ohne Probleme hineingelangen, manchmal sogar ohne einen Begleiter, wenn er wollte. Das Nationaltheater zum Beispiel ist hervorragend ausgebaut für die Bedürfnisse von Rollstuhlfahrern. Zudem gibt es dort jedes Jahr einen besonderen Veranstaltungstag extra für Behinderte.

Bei Kinos gelten dieselben Kriterien, weshalb David die neuen Kinokomplexe bevorzugt. Sie haben meist Aufzüge und stufenlose Zugänge zu den Sälen. Doch in den Sälen sind die guten Plätze wieder nur über Treppen zu erreichen, weshalb er gerne in Begleitung seines Bruders und eines Freundes ins Kino geht. Sie fassen ihn kurzerhand links und rechts am Rollstuhl, und tragen ihn in die hinteren Reihen hinauf. Und welche Kinos mag er nicht? "Kinos mit Barrieren."

In Kneipen sind Stufen seltener. Meist kommt er gut rein, und falls etwas stört, ist das dort auch kein Problem. "Wenn ich zu Kneipen komme, die einige Stufen haben, dann gibt es viele Freiwillige, die mir helfen."

Am besten klappt es in den großen, neu gebauten Veranstaltungsorten, den Fussballstadien oder dem Eisstadion, wo auch oft Konzerte stattfinden. Netterweise kommt seine Begleitung hier kostenlos mit hinein, sodass David letztens bei dem Rockkonzert von Anastacia für zwei Karten nur einmal den Eintrittspreis von 800 Kronen zahlen musste. Wie kommt er denn dort hin? Benutzt er manchmal die öffentlichen Verkehrsmittel?

"Manchmal ja, aber meistens fahre ich Auto in Prag. Wenn es hier allerdings so aussähe wie in Athen, bräuchte ich kein Auto."

Jiri Nemecek geht wie David gern auf Konzerte, am liebsten Rock, Metal und Jazz, und er sitzt auch im Rollstuhl. Aber Autofahren kann Jiri nicht, weshalb er stärker auf den öffentlichen Nahverkehr in Prag angewiesen ist. Ganz generell vertritt er die Ansicht:

"Alles wird besser und besser, aber es geht nicht so schnell, wie wir bräuchten, weil alle diese Sachen sehr teuer sind."

Jiri freut sich, überhaupt mit Bus und U-Bahn in die Innenstadt fahren zu können, doch er muss einige Umwege in Kauf nehmen und hat nur wenige Ausstiegsmöglichkeiten.

"Ich wohne jetzt in Cerny Most, das liegt am Stadtrand, und es ist nicht so einfach, ins Zentrum zu fahren. Es gibt einige Probleme beim Umsteigen zwischen den Linien. Wenn ich z. B. ins Zentrum fahren möchte, muss ich einen Bus nehmen, der nicht so oft fährt, aber ohne Barrieren ist. Mit diesem Bus fahre ich nach Ladvi, zur Endhaltestelle der Metro-Linie C. Mit der Linie C fahre ich dann bis Muzeum. Die Haltestelle hat einen Fahrstuhl, und dort kann ich rausgehen."

Jiri studiert an einer kleinen Hochschule in Prag Internationale Beziehungen. Die Hochschule ist speziell für die Bedürfnisse gehbehinderter Menschen ausgerichtet, hat aber auch viele Studierende ohne Behinderung. Jiri lernt im Zuge seines Studiums deutsch und hat Deutschland schon mehrere Male besucht. Um den öffentlichen Nahverkehr in Tschechien zu beurteilen, zieht er den Vergleich mit Kassel.

"Die Straßenbahnen in Kassel haben insgesamt nur zwei Haltstellen, wo behinderte Leute nicht aussteigen können. Das finde ich total toll, denn bei uns - nicht nur in Prag - ist es genau umgekehrt. Hier gibt es nur zwei Haltestellen, an denen wir überhaupt aussteigen können."

Um auszudrücken, wie behindertenfreundlich die ihm bekannten Städte generell sind, ordnet Jiri sie auf einer Skala von 1 bis 10 folgendermaßen ein.

"Kassel ist die Nummer eins, wirklich. Berlin kommt auf Platz drei, und Prag ist heute Nummer sechs oder sieben. Aber wir werden immer besser und besser - hoffe ich zumindest."

David hat ebenfalls gesehen, dass manch andere Stadt bisher wesentlich mehr für Gehbehinderte getan hat als Prag. Und er hat ebenso viel Verständnis dafür, dass diese Verbesserungen Zeit brauchen.

"Wenn ich Athen und Prag vergleiche, dann ist Athen wie ein schöner Traum und Prag die Realität. Aber alles braucht Zeit, die Stadt kann nicht sofort ohne Hindernisse sein."

Ein ganz wesentlicher Grund dafür, warum Prag im Vergleich mit westlichen Städten heute schlechter abschneidet, liegt in der kommunistischen Vergangenheit. Das wissen die Behinderten, und deshalb schätzen sie die heutige Situation trotz allem sehr.

"Hier war 40 Jahre lang Kommunismus, und die Menschen mit Behinderung waren nicht in die Gesellschaft integriert, sie wurden ausgeschlossen. Jetzt, seit 15 Jahren, wird alles besser und besser - langsam, aber sicher."

"Es sind erst 15 Jahre seit der Revolution vergangen, und deshalb gibt es zum Beispiel Eingänge ohne Barrieren nicht so oft, wie wir sie brauchen. Aber es ist wahr, es hat sich stark verbessert seit der Revolution."

Eine Dozentin von Jiri Nemecek an der Hochschule für internationale Beziehungen, Anna Benesova, beschreibt die Situation für behinderte Menschen vor der Wende mit einem aufschlussreichen Bild: "Sie waren wie Fische aus einem Aquarium herausgeworfen."

Von dieser Menschenfeindlichkeit des kommunistischen Regimes hat sich Tschechien zweifellos schon weit entfernt. Das Land bemüht sich behinderte Menschen in die Gesellschaft zu integrieren und die dafür nötigen Strukturen zu schaffen. Allerdings ist die Erblast des Kommunismus enorm, vor allem im materiellen Bereich der Infrastruktur. Und ihr Zustand entscheidet mit darüber, ob behinderte Menschen aus der Gesellschaft ausgeschlossen sind, oder ob sie am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, wie David Drahoninsky beobachtet.

"In unserer Gesellschaft sehe ich viele Menschen mit Behinderung, die nur zu Hause sitzen, trinken, rauchen, keine Arbeit haben und nichts machen. Wenn alles ohne Barrieren wäre, dann hätten die Menschen die Chance mit dem Rollstuhl draußen zu fahren, Menschen zu treffen, Arbeit zu suchen, und sie müssten nicht zu Hause herumsitzen."

Jedenfalls haben alle Befragten eines ganz besonders hervorgehoben für ihre Lebenssituation in Tschechien heute:

"Ich denke es ist viel, viel, viel, viel besser."