Länger arbeiten? Tschechien diskutiert Anhebung des Renteneintrittsalters

Tschechien ist eines jener EU-Länder, in denen das Renteneintrittsalter mit 65 Jahren noch relativ niedrig liegt. Der Minister für Arbeit und Soziales, Marian Jurečka, teilte aber unlängst mit, dass es bis spätestens 2030 erhöht werden müsse. Denn danach gehen die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Husák-Kinder in Pension. Die öffentlichen Mittel werden wegen der Inflation aber bereits jetzt ungewohnt stark belastet. Experten rechnen schon im kommenden Jahr mit einem Loch von 63 Milliarden Kronen (2,6 Milliarden Euro) in der staatlichen Rentenkasse.

Marian Jurečka | Foto: Regierungsamt der Tschechischen Republik

In der Diskussion um eine mögliche Erhöhung des Renteneintrittsalters zeigt sich die tschechische Regierung derzeit gespalten. Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) proklamierte vor knapp zwei Wochen in einem Interview mit der Tageszeitung „Blesk“, dass sein Kabinett diesen Schritt nicht gehen werde. Anders sieht das etwa Arbeitsminister Marian Jurečka (Christdemokraten) – und folgt damit den Ansichten seines Beraters Filip Pertold. Der Ökonom vom Think-Tank Idea warnte in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

„Der demografische Einbruch, der uns erwartet, wird weder durch Steuererhöhungen noch durch eine mögliche Steigerung der Produktivität aufgefangen. Er wird so steil sein, dass uns nichts anderes übrig bleiben wird, als schrittweise das Rentenalter anzuheben.“

Bevölkerungsanteil in der Altersgruppe 0 bis 14 und 65+  (1947 - 2021) | Foto: Tschechisches Statistikamt

Tatsächlich geschieht dies schon jetzt. Jedes Jahr wird hierzulande das Renteneintrittsalter für Männer um zwei Monate nach hinten verschoben und für Frauen für gewöhnlich um vier Monate. Die in der vorletzten Legislaturperiode festgelegte Grenze von 65 Jahren wird allerdings erst in etwa zehn Jahren erreicht.

Zbyněk Stanjura | Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks

Ähnlich wie im Arbeitsministerium sieht man die Lage im Finanzressort. Der dortige Minister Zbyněk Stanjura (Bürgerdemokraten), im Übrigen ein Parteikollege von Premier Fiala, äußerte Mitte November ebenfalls, dass einer Diskussion um eine Heraufsetzung des Renteneintrittsalters nicht mehr ausgewichen werden könne. Um das strukturelle Defizit im Staatshaushalt bis 2024 zu senken, müssten auch die Rahmenbedingungen für das Rentensystem geändert werden, so Stanjura.

Sorge bereiten die Husák-Kinder

Gustáv Husák | Foto: ČT24

Was den Demografen Sorgen bereitet, ist die Generation der sogenannten Husák-Kinder. Gemeint sind all jene Menschen, die zu Beginn der Regierungszeit von Gustav Husák Anfang der 1970er zur Welt kamen. Der damalige Generalsekretär der tschechoslowakischen kommunistischen Partei sorgte mit einer aktiven Familienpolitik für einen Geburtenboom. Und dieser wird in ein bis zwei Jahrzehnten eine sprunghafte Zunahme von Rentnern in Tschechien zur Folge haben.

Dies sei aber ein eher unbedeutender Faktor, sagt Vladimír Špidla (Sozialdemokraten). Der Ökonom, Ex-Premier und ehemalige EU-Kommissar für Beschäftigung, Soziales und Chancengleichheit sieht den Grund für die steigende Belastung der Rentenkassen an anderer Stelle:

„Seit den 1990er Jahren bewegt sich der Anteil der Rentenkosten am Bruttoinlandsprodukt zwischen 7,9 und 9,5 Prozent. Aktuell liegt er bei knapp 8,5 Prozent. Obwohl also die Zahl der Rentner in diesem Zeitraum um 600.000 zunahm, hat sich die Bilanz des Rentensystems in Bezug auf das BIP nicht geändert.“

Vladimir Spidla | Foto: Freddy Valverde,  Radio Prague International

Trotzdem fehlt dem tschechischen Staat aber zunehmend Geld, um seine Senioren zu versorgen. Und dies sogar bei einem Bruttoinlandsprodukt (BIP), das heute fast um das Sechsfache höher liegt als noch zur Jahrtausendwende. Laut Špidla könnten genau hier mehr Mittel für die Rente abgezweigt werden:

„Im Jahr 2000 betrug das BIP 2,386 Billionen Kronen und 2019 schon 13,85 Billionen Kronen. Entscheidend ist also das Verhältnis, wie viel Prozent des BIP in die Rentenkasse fließen. Der Haushaltsrat hat errechnet, dass zu den gegebenen Bedingungen die Rentenkosten an ihrem höchsten Punkt – nach welchem die Kosten durch die demografische Entwicklung dann wieder automatisch zurückgehen – 12,5 Prozent des BIP ausmachen werden. Diese Zahlen gibt es in anderen Ländern jetzt schon. Sie würden also nicht dazu führen, dass die Renten hierzulande nicht mehr finanzierbar wären.“

Filip Pertold | Foto: ČT24

Für Filip Pertold ist das kein Argument gegen eine Anhebung des Rentenalters. Im Gegenteil, der baldige demografische Einbruch sei nicht wegzudiskutieren, so der Analytiker. Die Zahlen scheinen ihm Recht zu geben: Schon jetzt sind etwa 20 Prozent der Bevölkerung Tschechiens 65 Jahre und älter, Tendenz steigend. Dies lasse sich nur schwer kompensieren, so Pertold:

„Die starken Jahrgänge von Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre gehen in der zweiten Hälfte der 2030er Jahre in Rente. Selbst wenn die Geburtenrate jetzt steigen würde, können wir dem kaum etwas entgegensetzen – außer vielleicht noch die Aufnahme ausländischer Arbeitskräfte oder deutliche Steuererhöhungen. Die Prognosen des Arbeitsministeriums, nach denen wir in den 2040er und 2050er Jahren ein Defizit von fünf Prozent des BIP allein im Rentenfonds haben werden, sind meines Erachten sehr realistisch.“

Zum Vergleich: Nach der aktuellen makroökonomischen Prognose des Finanzministeriums wird das Loch in den gesamten öffentlichen Finanzen Tschechiens, von denen die Renten nur etwa ein Zehntel darstellen, schon in diesem Jahr 4,6 Prozent des BIP betragen.

Eine Frage der Verteilung

Illustrationsfoto: Gerd Altmann,  Pixabay,  CC0 1.0 DEED

Die Spirale führt in den kommenden Jahrzehnten also abwärts. Ein höheres Renteneintrittsalter könne die Entwicklung zwar abschwächen, sei aber auch kein Selbstrettungsmechanismus, räumt Filip Pertold ein. Zumal dies erst langfristig greifen würde. Fast sicher ist hingegen, dass ein Anteil von 63 Milliarden Kronen (2,6 Milliarden Euro) an Rentenkosten bereits im kommenden Jahr aus Schulden finanziert werden müsse, so der Analytiker. Für Vladimír Špidla ist dies allerdings eine Frage der Verteilung:

„Die Lage verschlechtert sich nicht. Das technische Defizit entsteht durch den Mechanismus der Einnahmen und Ausgaben, so wie er derzeit eingerichtet ist. Während der letzten 20 Jahre gab es Momente des Defizits und Momente des Überschusses. 2019 etwa bestand ein Plus von 43 Milliarden Kronen – ohne dass sich die demografische Struktur geändert hat.“

43 Milliarden Kronen sind heute knapp 1,8 Milliarden Euro. Laut Špidla gelingt es also nicht, in den Jahren einer Positivbilanz Geld für die Renten zurückzulegen. Filip Pertold stimmt zu, dass die Ein- und Ausgaben in der Pensionskasse derzeit unausgeglichen seien:

Illustrativesfoto: Stuart Miles,  FreeDigitalPhotos.net

„Dies liegt am System der Rentenanpassung, das meiner Meinung nach schlecht angelegt ist – aber das ist andere Diskussion. Das zu erwartende Defizit ergibt sich also aus der Valorisierung, mit der zumindest für einen Teil der Rentner die Inflation in voller Höhe kompensiert wird. Diese liegt jetzt bei 17 bis 18 Prozent. Die Nominallöhne wachsen aber nur um etwa acht Prozent an. Und dieser Unterschied bei den Löhnen schlägt sich auf die Einzahlungen in die Rentenkasse nieder.“

Großzügige Valorisierung

Diese großzügige Rentenangleichung an die Inflation führe zu der paradoxen Situation, dass sich derzeit ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Arbeitsleben auszahle, erläutert Daniel Prokop. Er leitet das Forschungsinstitut PAQ Research und arbeitet mit dem Tschechischen Rundfunk am Langzeitprojekt „Česko 2022: Život k nezaplacení“ (Tschechien 2022: Unbezahlbares Leben) zusammen:

„Im Moment ist es vorteilhaft, ein Jahr vor dem eigentlichen Eintrittsalter schon in Rente zu gehen. Denn dann ist der Abschlag sehr gering, man bekommt also eine höhere Summe ausgezahlt als noch drei Jahre vor der Rente. Der Abschlag beträgt nur 0,9 Prozent pro Quartal. Aber gleichzeitig gilt derzeit eine umfangreiche Valorisierung. Wenn man diese geltend machen kann, ist man schon nach anderthalb Jahren auf einem höheren Rentenniveau als jene, die mit dem vorgesehenen Alter in Pension gehen.“

Daniel Prokop | Foto: Elena Horálková,  Archiv des Tschechischen Rundfunks

Dies stelle ein Problem dar, denn es sei nicht gerecht, findet der Soziologe. Allerdings ist das Zeitfenster für diese Vorteilsnahme sehr klein. Eine baldige Abschwächung der Inflation in Tschechien vorausgesetzt, werde die Valorisierung ab 2024 wieder deutlich abnehmen, so Prokops Hinweis. Aber der Fehler liege im System:

„Anstatt die Menschen dazu zu motivieren, bis zum Rentenalter zu arbeiten – und idealerweise auch noch darüber hinaus, wenn es sich um weniger anspruchsvolle Berufe handelt –, unterstützt der Staat einen vorzeitigen Eintritt in die Rente. Die Menschen aber, die noch im Rentenalter arbeiten, müssen die normalen Abgaben leisten. Dabei sollten die Steuern für sie jedoch gesenkt werden, damit sie einen Anreiz haben, auf dem Arbeitsmarkt zu bleiben. Dies muss sich meiner Ansicht nach ändern.“

Denn dadurch müssten andere, nach Prokops Worten unpopuläre Maßnahmen dann nicht mehr so drastisch ausfallen – wie eben die Erhöhung des Renteneintrittsalters. Und auch Vladimír Špidla plädiert für eine Neuordnung der Steuervorgaben:

„Die Probleme bei der Rentenfinanzierung lassen sich nicht außerhalb der öffentlichen Finanzen als Ganzes lösen. Und diese haben im Moment viel zu wenige Einnahmen. Darum ist eine umfassende Steuerreform nötig. Diese muss einerseits die technologischen Veränderungen bei den Verdiensttätigkeiten berücksichtigen – denn die aktuellen Methoden stammen mehr oder weniger aus den 1960er Jahren und sind veraltet. Andererseits ist klar, dass die Steuerlast umgeschichtet werden muss. Zurzeit werden nämlich die größten Firmen und die reichsten Einkommen bevorteilt.“

Petr Fiala | Foto: Regierungsamt der Tschechischen Republik

Premier Petr Fiala hat allerdings mehrfach betont, keine Steuererhöhungen zuzulassen. Allerdings hat seine Regierung auf die jetzige Energiekrise auch mit der Einführung der Windfall Tax, also einer Übergewinnsteuer reagiert und schröpft Energiefirmen, die von den hohen Preisen profitieren.

Ökonom Filip Pertold äußert keine Einwände gegen eine Steuerreform. An der Forderung, das Renteneintrittsalter zu erhöhen, hält er aber dennoch fest…

„Ich möchte betonen, dass es sich um zwei verschiedene Dinge handelt – nämlich um den aktuellen Stand der öffentlichen Finanzen einschließlich des Rentenfonds und um die künftigen Probleme, die uns in den 2030er Jahren erwarten, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in Rente gehen. Beide Punkte müssen mit unterschiedlichen Instrumenten gelöst werden.“

Damit sind der Regierung mindestens zwei Aufgaben gestellt. Eine längere Lebensarbeitszeit und einen späteren Rentenbeginn empfiehlt im Übrigen auch der Nationale Wirtschaftsrat der Regierung (NERV). Noch stellt sich Premier Fiala dagegen. Er strebe eine solide Rentenreform an, betonte der Regierungschef im Interview für „Blesk“. Nur so hätten jene Menschen, die heute noch keine 40 sind, eine Chance auf eine ordentliche Rente, meint Fiala.

Autoren: Daniela Honigmann , Karolina Koubová
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