Land der Angst und des aufkommenden Antisemitismus: die Zweite Republik
Eines der vielen Kapitel der tschechischen Geschichte, die bislang immer noch nicht ausreichend historisch beleuchtet wurden, ist die Zeit der so genannten Zweiten Republik. Dieser Staat bestand ein halbes Jahr lang und an seinen Anfang und Ende bildeten zwei wichtige Ereignisse der tschechischen Geschichte, die das Land auch nachhaltig geprägt haben und vielleicht heute noch prägen: Zum einen war es das Münchner Abkommen vom 30. September 1938, das die Abtretung des Sudetengebiets zur Folge hatte. Zum anderen der Einmarsch der deutschen Truppen am 15. März 1939 und die Gründung des Protektorats Böhmen und Mähren. Mehr über den Charakter der Zweiten Republik nun im folgenden Beitrag.
Die Zweite Republik entstand nach dem Münchner Abkommen. Weiterhin hieß das Staatsgebilde Tschecho-Slowakei, auch wenn zwischen den Bezeichnungen der beiden Landesteile erstmals ein Bindestrich Platz fand. Trotz des fast gleichen Namens war die Zweite Republik von ihrem Charakter her ein ganz anderer Staat als die Erste Republik. Die Republik Masaryks der Jahre 1918 bis 1938 war auf den Idealen des Humanismus aufgebaut worden. Den vielleicht wichtigsten Unterschied fasst der Historiker Jan Boris Uhlíř vom Militärhistorischen Museum zusammen:
„Die Erste Republik hatte viel Positives mit sich gebracht. Antisemitismus war zum Beispiel verpönt und fand praktisch gar nicht statt – vielleicht mit der Ausnahme von ein paar Einzelpersonen. Nach dem Münchner Abkommen nahm der Antisemitismus auf einmal erschreckend stark zu. Im Rahmen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen – zum Beispiel Ärzten oder Rechtsanwälten – wurden jüdischstämmige Kollegen massenweise denunziert. Diese wurden sofort aus den Berufsvertretungen wie der Ärztekammer ausgeschlossen. Hier wurde auf einmal versucht die sozusagen jüdische Konkurrenz nicht etwa physisch, sondern administrativ – per Streichung aus der Mitgliederkartei – zu erledigen.“
Funktionäre der Berufsvertretungen wandten sich am 14. Oktober 1938 in einem offiziellen Schreiben an den damaligen Innenminister Jan Černý. Darin war die Rede davon sicherzustellen, dass Arzt-, Anwalts- oder Ingenieursberufe nicht mehr von Juden ausgeübt würden. Gleichzeitig boten die Standesvertretungen ihre Mithilfe bei der „Lösung dieser dringenden Frage an“, wie sie in einem Brief an den Minister schrieben.
Die Tschechische Ärztekammer hat sich übrigens erst vor kurzem und die Anwaltskammer im vergangenen Jahr offiziell für das Verhalten ihrer Vorgängerorganisation während der Zweiten Republik entschuldigt.
Aber auch das – sozusagen – einfache Volk auf der Straße machte bei verschiedenen Kundgebungen immer öfter jüdische Mitbürger zur Zielscheibe der eigenen Wut. Selbst die von den deutschen Nazis in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 initiierten antijüdischen Pogrome hatten eine praktische Konsequenz in der damaligen Tschecho-Slowakei. Zum einen gab es den Erlass, keinen aus Deutschland fliehenden Juden ins Land zu lassen. Zum anderen sagte der damalige Premierminister Rudolf Beran wenige Wochen später, am 12. Dezember 1938, er wolle die so genannte „jüdische Frage“ auf ähnliche Weise lösen, wie in Deutschland. Erste Konsequenz war, dass im Januar 1939 alle Juden aus dem Staatsdienst entlassen wurden.
Während der Ersten Republik galt die Tschechoslowakei als „letzter Hort der Demokratie in Mitteleuropa“. Innerhalb von wenigen Wochen erhielt das Bild nun tiefe Risse. Warum das so war, dafür muss man wohl die Psychologie bemühen. Denn der Gemütszustand der meisten Tschechen war nach dem Münchener Abkommen und der Erfahrung des Nachgebens gegenüber dem äußeren Druck Hitlers angeschlagen, wie der Historiker Michal Pehr von der Akademie der Wissenschaften im Gespräch mit Radio Prag erläutert:„Die Lage in der Tschechoslowakei nach dem Inkrafttreten des Münchener Abkommens war hoffnungslos und bedrückend. Die politischen Strukturen der Ersten Republik hörten auf zu existieren und an ihre Stelle trat ein völlig neues politisches Gefüge. Über all dem schwebte jedoch eine entscheidende Frage: Wer trägt Schuld an der Misere, dass das Land einen bedeutenden Teil seines Territoriums verloren hat und noch dazu kampflos? Die zweite große Frage, die im Raum stand, war das Verhältnis zu Deutschland. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass die wenigen Monaten des Bestehens der Zweiten Republik geprägt waren von Desillusion, Angst und der Suche nach neuen Wegen.“Was aber war mit der politischen Elite der Ersten Republik geschehen? War sie es selbst, die nun vom Weg der Demokratie abkamen? Oder rissen neue, bis dahin wenig bekannte Politiker aus der zweiten oder dritten Reihe die Macht im verunsicherten Staat an sich?
„Im Prinzip lässt sich sagen, dass ein Großteil der Politiker aus der Zeit vor München auch nachher aktiv war. Natürlich sahen einige in der tiefen Zäsur, die durch das Abkommen von München entstand, die Möglichkeit das Bisherige aufzugeben und etwas Neues zu gründen. Nach dem Rücktritt von Präsident Edvard Beneš wird mit Emil Hácha aber ein neues Staatsoberhaupt gewählt, es wird eine neue Regierung installiert. Die bisherigen Parteien lösen sich auf und schließen sich zu zwei neuen zusammen – einer rechten Partei und einer für die Arbeiterschaft. An der Spitze der Verwaltung kommt es ebenfalls zu Veränderungen: Die bisherigen Amtsinhaber verlassen ihre Posten und es kommen ganz neue Personen“, so Pehr.
Interessant ist aber auch die weitere Entwicklung hin zum Protektorat. Denn auffällig ist, dass dieselben gesellschaftlichen Gruppen sowohl während der Zweiten Republik, als auch später im Protektorat Böhmen und Mähren zu Zielscheibe wurden - die Juden und führende Intellektuelle der Ersten Republik, wie zum Beispiel der Schriftsteller Karel Čapek.
Kam es also erst mit Beginn der Terrorwelle nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich vom 27. Mai 1942 zu einer dramatischen Veränderung der Lage? Michal Pehr verneint, auch wenn die Nazis dies gerne vorgegaukelt hätten:
„Die deutschen Besatzungsbehörden wollten beim Aufbau einer politischen Struktur im Protektorat Böhmen und Mähren tatsächlich den Eindruck erwecken, dass der Übergang von der Zweiten Republik fließend sei und sich eigentlich nichts Wesentliches nach dem 15. März 1939 geändert hat. Es wurde zum Beispiel großer Wert auf die personelle Kontinuität gelegt – sowohl Präsident wie auch Regierung der Zweiten Republik blieben im Amt. Das gesellschaftliche Klima im Protektorat Böhmen und Mähren lässt sich jedoch keinesfalls mit der Zweiten Republik vergleichen. Erst die Besatzung durch die deutschen Truppen öffnete vielen Tschechen die Augen, dass es den Nazis um die Liquidierung des tschechischen Volkes ging.“Wie ist der Stand der wissenschaftlichen Forschung rund um die Zweite Republik? Lange Zeit war dieses Thema tabuisiert, weil es teilweise die Eindeutigkeit der Opfer-Rolle der Tschechoslowakei und deren führenden Vertreter in den Jahren 1938 bis 1945 in Frage stellte. Dazu noch einmal Historiker Michal Pehr von der Akademie der Wissenschaften:
„Ich muss sagen, dass sich das in letzter Zeit ein wenig gebessert hat. Zum Thema sind bereits mehrere Arbeiten von jungen Historikern erschienen. Aber es stimmt, dass die tschechische Gesellschaft an dieses Kapitel ihrer Geschichte meist mit einer gewissen Scheu herangeht, weil es sich nur schwer eindeutig erfassen lässt - ganz im Gegensatz zum Münchner Abkommen oder zur Zeit der Besatzung durch Hitler-Deutschland. Man kann eben nicht sagen, dass die Zweite Republik etwas Positives gewesen wäre oder dass sich die Tschechen ehrenhaft verhalten hätten. Wie soll man also zu dieser Zeit stehen?“