Lissabon-Vertrag: Streit um die tschechische Extrawurst

Zunächst waren alle begeistert, nun hagelt es plötzlich jede Menge Kritik: die Rede ist von der Ausnahmeregelung zur EU-Grundrechtecharta, die Tschechien am EU-Gipfel vergangene Woche in Brüssel zugestanden worden ist. Während sich Präsident Václav Klaus über die Erfüllung seiner Bedingung naturgemäß zufrieden zeigt, schlagen die Sozialdemokraten scharfe Töne an. Und die trieben wiederum Premier Fischer auf die Palme.

Jan Fischer und Fredrik Reinfeldt  (Foto: ČTK)
Er war deutlich zu hören: jener Stein, der den 27 EU-Staats- und Regierungschefs und den EU-Spitzen am vergangenen Donnerstag vom Herzen gefallen ist, allen voran dem Präsidenten der Europäischen Kommission, José Manuel Barroso, und dem amtierenden Ratspräsidenten, dem schwedischen Premier Fredrik Reinfeldt.

„Ich bin froh, Ihnen mitteilen zu können, dass der Europäische Rat eine Entscheidung getroffen hat zu dem, was die tschechische Regierung und der tschechische Präsident gefordert haben. Wie bereits Polen und Großbritannien wird auch Tschechien eine Ausnahmeregelung zur EU-Grundrechtecharta zugestanden“,

so Reinfeldt am Donnerstagabend in Brüssel. Erleichtert zeigte sich auch Kommissionspräsident Barroso. Damit ist die Bedingung des tschechischen Präsidenten Václav Klaus erfüllt, die er zur Ratifizierung des Lissabon-Vertrages gestellt hat. Klaus selbst zeigte sich zufrieden mit dem Ergebnis der Verhandlungen, wie er seinen nach Brüssel gereisten Kanzleichef Jiří Weigl ausrichten ließ

„Der Präsident hat eine einzige Bedingung für die Ratifizierung des Lissabon-Vertrages gestellt, der meiner Meinung nach entsprochen worden ist. Er wird keine weiteren Forderungen stellen.“

Präsident Václav Klaus | Foto: Radio Prague International
In einer Pressemitteilung dankte Klaus dem Verhandlungsteam; es habe das „maximal Mögliche“ erreicht und er sei mit dem Ergebnis zufrieden. Durch die Ausnahmeregelung von der Grundrechtecharta sei möglichen Restitutionsforderungen von Seiten der Sudetendeutschen einen Riegel vorgeschoben worden. Daher werde er keine weiteren Bedingungen zur Ratifizierung des Lissabon-Vertrags stellen, betonte Klaus.

Zufrieden mit der erzielten Einigung ist auch Premierminister Jan Fischer. Herbe Kritik kommt hingen von den tschechischen Sozialdemokraten. Die Regierung Fischer habe in Brüssel versagt, sagte Parteichef Jiří Paroubek:

„Statt eine Ausnahmeregelung zu fordern, die nur die Unanfechtbarkeit der Beneš-Dekrete betrifft, hat die Regierung eine nur schwer akzeptable Aussetzung der gesamten Grundrechtecharta und damit auch wichtiger sozialer Garantien für die tschechischen Bürger durchgesetzt.“

Jiří Paroubek  (Foto: ČTK)
Dabei war es gerade Jiří Paroubek, der vor dem Brüsseler EU-Gipfel die von der schwedischen Ratspräsidentschaft vorgeschlagene und vergangene Woche beschlossene Aussetzung der gesamten Grundrechtecharta als gangbaren Weg zur raschen Ratifizierung des Lissabon-Vertrages begrüßt hatte. Die Regierung und Premier Fischer seien im Vorfeld des Gipfels nicht mit der ganzen Wahrheit herausgerückt, behauptete Paroubek nach dem Gipfel am Freitag vergangener Woche. Eine Kritik, die sich Premier Fischer nicht gefallen ließ. Der sonst stets besonnen und zurückhaltend auftretende Regierungschef war außer sich vor Ärger:

„Wer da eine Benachteilung der tschechischen Bürger herauslesen will, der soll das – zum Teufel! – tun. Bisher habe ich aus dem Mund des Vorsitzenden der Sozialdemokraten jedenfalls keine derartige Kritik gehört. Trotz dieser Ausnahmeregelung genießen die tschechischen Bürger den gleichen Schutz ihrer Grundrechte wie die übrigen Bürger der EU. Ich verstehe meine Arbeit als Regierungschef als Dienst an den tschechischen Bürgern. Niemand braucht zu glauben, dass ich meine Arbeit so miserabel mache und die Grundrechte der Tschechen in Brüssel verrate.“

Tatsächlich beinhaltet auch die tschechische Verfassung eine Grundrechtecharta, zudem gilt auch in Tschechien die 1953 in Kraft getretene Europäische Menschenrechtskonvention. Allerdings, in einigen Punkten bietet die EU-Grundrechetcharta mehr Garantien, als die bisherigen Regelungen beinhalten, vor allem für Arbeitnehmer, wie der Vorsitzende des Böhmisch-Mährischen Gewerkschaftsbundes, Milan Štěch betont:

„Da geht es zum Beispiel um das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen durch die Gewerkschaften. Ganz allgemein um den fairen Umgang mit Arbeitnehmern.“

Auch ein besserer Kündigungsschutz ist etwa in der EU-Grundrechtecharta verankert. Daher bedeute der in Brüssel verhandelte Kompromiss eine Benachteiligung tschechischer Arbeitnehmer, so Štěch, der für die Sozialdemokraten als Senator im Parlament sitzt. Er wolle sich daher mit seiner Partei darum bemühen, dass die von Tschechien geforderte Ausnahmeregelung zur EU-Grundrechtecharta nicht in Kraft tritt, so Štěch.


Jitka Mládková im Gespräch mit Radio-Prag-Redakteuer Daniel Kortschak.

Daniel, das ganze Wochenende hat uns die Debatte über die Grundrechte-Ausnahme beschäftigt. Es gibt da ja die verschiedensten Interpretationen. Versuchen wir also, ein wenig Klarheit in die Sache zu bringen. Werden die Tschechinnen und Tschechen nun tatsächlich zu EU-Bürgern zweiter Klasse, wie die Sozialdemokraten behaupten oder ändert sich wirklich nichts, wie die Regierung nicht müde wird zu versichern?

„Nun eines ist klar: die EU-Grundrechtecharta findet in Tschechien keine Anwendung. Und damit genießen die Arbeitnehmer hierzulande etwa einen schlechteren Kündigungsschutz, als in den übrigen 24 EU-Ländern – es sind nur 24, denn für Polen und Großbritannien gibt es ja auch eine Ausnahmeregelung. Genau das begrüßen übrigens die Bürgerdemokraten und Präsident Klaus, der davor gewarnt hat, dass der Lissabon-Vertrag und seine Grundrechtecharta die Vorstufe zur Wiedereinführung des Sozialismus seien. Denn man muss es noch einmal deutlich sagen: Es geht Klaus ja nur wirklich nicht nur um die Beneš-Dekrete, von denen er selbst genauso gut weiß, dass sie mit der Grundrechte-Charta eigentlich kaum etwas zu tun haben. Außerdem: die von Tschechien verlangte Ausnahmereglung wird erst gemeinsam mit dem EU-Beitrittsvertrag von Koratien von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert werden, also in frühestens drei Jahren. Bis dahin gilt auch in Tschechien die Grundrechte-Charta und damit hätten die Sudetendeutschen – wenn sie wollten - jede Menge Zeit, eine Klage gegen die Enteignungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu versuchen.“

Also eigentlich geht es viel mehr um das Sozialkapitel der Charta als um die Beneš-Dekrete. Daher wohl auch die Aufregung der Sozialdemokraten. Aber wie kommt es, dass Parteichef Paroubek zunächst die Gesamt-Ausnahme von der Grundrechte-Charta begrüßt, um dann eine 180-Grad-Pirouette zu vollbringen und nun aus vollen Rohren gegen Premier Fischer zu schießen?

Foto: Archiv Radio Prag
„Das ist ja nicht der erste derartige blitzartige Meinungsumschwung von Paroubek. Im konkreten Fall wird er wohl von seinen europäischen Genossen so Einiges zu hören bekommen haben, denn gerade das Sozialkapitel der Grundrechtecharta ist eine Errungenschaft von Europas Sozialdemokraten, um die sie vehement gekämpft haben. Zweitens – wir haben es ja im Beitrag gehört – wuchs auch der Druck in den eigenen Reihen, vor allem von Seiten der Gewerkschaft. Premier Fischer Versagen in Brüssel vorzuwerfen ist jedenfalls ein starkes Stück, denn jeder weiß, dass Tschechien eigentlich so gut wie keinen Verhandlungsspielraum hatte und unter enormem Druck stand. Eine explizite Erwähnung der Beneš-Dekrete hat sich etwa Ungarn von vorneherein verbeten und auch Österreich und die Slowakei, möglicher Weise auch Deutschland hätten dem nicht zugestimmt. Wenn Herr Paroubek jemandem die Schuld an der jetzigen Situation geben will, dann muss er sich wohl eher an Präsident Klaus wenden.“

Präsident Klaus sagt, er ist zufrieden mit der Einigung. Kann der Lissabon-Vertrag also, wie von Tschechien versprochen, mit 1. Januar 2010 in Kraft treten?

„Klaus hat zwar gesagt, er will keine weiteren Bedingungen stellen. Aber noch steht das Urteil des Verfassungsgerichts aus, das für Dienstag erwartet wird. Und selbst wenn das – wie allgemein erwartet wird – zum Vorteil des EU-Reformvertrags ausfällt, heißt das noch nicht, dass dem Lissabon-Vertrag nichts mehr im Weg steht. Denn die EU-kritischen – und Klaus-freundlichen - Senatoren werden sich wohl nicht so schnell geschlagen geben. So haben sie zum Beispiel ihre Verfassungsbeschwerde am Freitag zu dritten Mal um einige Punkte ergänzt, was zu einer weiteren Verzögerung im Verfahren führen könnte. Einige Senatoren wollen außerdem eine neue Verfassungsklage einbringen. Und zwar nicht gegen den Lissabon-Vertrag, sondern gegen das Vorgehen des Verfassungsgericht bei der Beurteilung des EU-Reformvertrages.“