Nach der Erweiterung: Tschechien im neuen Europa

Premierminister Tschechiens Vladimír Spidla

Seit dem 1. Mai wehen auch in Prag die Fahnen der Europäischen Union. Der lange und komplizierte Prozess der Erweiterung hat seinen Höhepunkt erreicht, zehn neue Mitglieder sind der Gemeinschaft beigetreten. Als Riesenzwerg oder Miniriese wurde die EU zuvor oft bezeichnet. Nun jedoch ist ein wirklicher Riese aus ihr geworden, mit neuen Aufgaben und neuer Verantwortung. Und so standen auch in Tschechien die vergangenen Tage im Zeichen einer ersten Bestandsaufnahme: Wie sieht das neue Mitgliedsland seinen Platz im neuen Europa? Wohin geht die Reise in der erweiterten Union? Mehr dazu den nun folgenden "Schauplatz" von Gerald Schubert:

Premierminister Tschechiens Vladimír Spidla
Die mediale Begleitmusik der größten EU-Erweiterung in der Geschichte war schon Monate vor dem Tag X, also dem 1. Mai, laut und vielstimmig. Auch die groß angelegten Feierlichkeiten anlässlich des Beitritts der zehn Neuen zeigten, welche Bedeutung diesem historischen Datum quer über den Kontinent beigemessen wird. Unmittelbar spürbare Auswirkungen hat das Anwachsen der Europäischen Union jedoch für die meisten Menschen noch nicht. Denn die Stacheldrähte am ehemaligen Eisernen Vorhang, der Europa entzweit hatte, sind längst zerschnitten, und die Möglichkeit, einfach mal von Prag nach Wien oder von Warschau nach Berlin zu fahren, die ist längst Realität. Ein recht unspektakulärer Wechsel also, der sich da am 1. Mai vollzogen hat? Vielleicht, wenn man etwa das Hissen von EU-Fahnen in Prag mit dem einstigen Fall der Berliner Mauer vergleicht. Doch die Bedeutung des Erweiterungsprozesses selbst wird dadurch nicht geschmälert, meint der tschechische Premierminister Vladimír Spidla im Gespräch mit Radio Prag:

"Der EU-Beitritt ist natürlich eine geschichtliche Wende für die Tschechische Republik. Und auch eine geschichtliche Wende für Europa selbst. Denn wir sind die erste Generation, die ihr ganzes Leben in Frieden lebt. Das ist etwas so Einzigartiges, dass wir es noch gar nicht hinreichend beurteilen können. Europa war zuvor ein Kontinent voll von Kriegen, Liquidierungen von Minderheiten, verschiedensten Kämpfen. Und das mehr als tausend Jahre lang. Also die EU ist wirklich etwas Historisches."

Integration statt Gleichgewicht der Kräfte. So lautete stets das Motto Spidlas, der als gelernter Historiker schon immer gerne die langfristigen Aufgaben der EU betont hat. Meinungsverschiedenheiten und unterschiedliche Interessen wird es auch in Zukunft geben, sagt er. Auch innerhalb der Europäischen Union. Jedoch:

"Früher wurden diese Probleme mit Waffen gelöst, jetzt macht man das an den Verhandlungstischen. Konflikte bestanden also früher, und sie werden weiterhin bestehen. Aber das ist nicht unnatürlich und nicht gegen den Geist von Europa."


Europa nach der Erweiterung - eine neue Herausforderung. Das ist die Perspektive, die nun - auch in Tschechien - den meisten Diskussionen über den europäischen Integrationsprozess zugrunde liegt. Das Referendum ist längst Geschichte, der Beitritt ist vollzogen, die Debatten scheinen von so manchem rhetorischen Ballast befreit. Einige Politiker und Kommentatoren betonen zwar immer noch den ihrer Meinung nach drohenden Souveränitätsverlust, während für andere die Souveränität des Staates in einem gemeinsamen Europa der Stabilität und des Friedens sogar steigt. Doch wie auch immer: Das magische Datum 1. Mai ist Vergangenheit, nun geht es um konkrete Schritte in die Zukunft.

EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen  (Foto: CTK)
Auf einer Konferenz an der Prager Hochschule für Ökonomie, die sich mit den neuen Herausforderungen für Europa beschäftigte, war vergangene Woche EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen zu Gast. Wie beurteilt der Brüsseler Ressortchef nun den Beitritt der zehn Neuen? Konnte die Union diesen riesigen Schritt gut ausbalancieren? Und wohin gehen die nächsten Schritte?

"Sicher: Diese große Erweiterung war für viele ungewohnt, und ihre Dimension hat vielen Menschen vielleicht auch Schrecken eingejagt. Aber sie bedeutet politisch und wirtschaftlich eine Stärkung Europas. Das ist bereits sichtbar - nicht eine Prognose für die Zukunft, sondern die Beschreibung der Realität von heute: Der Beitritt der Zehn macht Europa politisch und wirtschaftlich stärker. Trotzdem glaube ich, dass in den vor uns liegenden Jahren nicht noch einmal die Erweiterung die wichtigste Priorität sein kann, sondern dass wir uns auf unsere eigentlichen Ziele konzentrieren müssen. Insbesondere auf das Ziel, stärkeres Wachstum und mehr Arbeitsplätze zu schaffen."

Eine Stagnation des Mitgliederstandes von 25 bedeutet das aber freilich nicht. Auch wenn Verheugen einschränkt:

"Ich glaube, dass für ziemlich lange Zeit die Westgrenze der früheren Sowjetunion die Ostgrenze der Europäischen Union sein wird. Mit Ausnahme der Baltischen Staaten, die ja schon heute der Europäischen Union angehören."

Bulgarien und Rumänien werden jedoch aller Voraussicht nach bereits im Jahr 2007 der EU beitreten. Kroatien hat bei seinen Vorbereitungen laut Verheugen ebenfalls gute Fortschritte gemacht und befindet sich im Warteraum der Union. Und wie sieht Verheugen einen eventuellen Beitritt der Türkei? Beim EU-Neuling Tschechien hat diese Frage einstweilen noch keine allzu kontroversen Debatten ausgelöst. In einigen alten EU-Staaten wie etwa Frankreich und Deutschland ist sie hingegen bereits zum EU-Wahlkampfthema geworden.

"Das ist nicht verboten. Ich bin auch dafür, dass eine so schwierige und wichtige europäische Frage mit den Bürgerinnen und Bürgern besprochen wird. Und wann soll man sie mit den Bürgerinnen und Bürgern besprechen, wenn nicht vor einer Wahl? Das halte ich also für völlig normal. Man muss allerdings dann die Menschen auch darüber aufklären, dass das nächste europäische Parlament in der Frage der Türkei keinerlei Entscheidungen zu treffen haben wird. Denn es wird in den nächsten fünf Jahren bestimmt keinen Beitritt der Türkei geben. Vielleicht nicht einmal in den nächsten zehn Jahren. Deshalb sollte das eine ruhige und sachliche Diskussion sein, mit einer Abwägung des Für und Wider. Und die Regierungschefs sollten ihren Parlamenten und ihrer Öffentlichkeit natürlich klar machen, dass sie die Frage, ob die Türkei Mitglied werden kann, längst entschieden haben. Die Staats- und Regierungschefs haben viele Male gesagt: Die Türkei kann Mitglied werden - wenn sie die Bedingungen erfüllt."


Expräsident Václav Havel und sein 'Burgarchitekt' Borek Sipek in Brüssel  (Foto: CTK)
Nicht nur in Prag gab es in den letzten Tagen gesamteuropäische Nabelschau unter prominenter Beteiligung. Auch in Brüssel, konkret in der dortigen Vertretung der Tschechischen Republik, wurde das tschechische Steinchen im europäischen Puzzle rhetorisch auf Hochglanz gebracht. Die Festveranstaltung namens "Zehn Tage Tschechien in der EU" wurde von Expräsident Václav Havel eröffnet, der im Gegensatz zu seinem Nachfolger Václav Klaus immer als großer Befürworter der europäischen Integration auftrat. Glaubt er, dass seine europäische Begeisterung auch noch in zehn Jahren gerechtfertigt sein wird?

"Von Begeisterung würde ich gar nicht sprechen. Ich glaube aber, dass unser EU-Beitritt ein wirklich positiver und wichtiger Augenblick in unserer Geschichte ist, der erst schrittweise bewertet werden kann. Wir sind natürlich alle keine Hellseher, niemand weiß, was kommt. Aber ich glaube daran, dass Europa nun eine gute Zukunft bevorsteht. Und unsere Generation hat das Glück, bei diesem wichtigen Augenblick dabei gewesen zu sein."

Und damit charakterisiert Havel recht gut die Stimmung im neuen EU-Land Tschechien. Begeisterungsstürme wie zur Zeit der Samtenen Revolution, die 1989 das kommunistische Regime hinweggefegt hatte, waren anlässlich des Beitritts zur Europäischen Union nicht zu erwarten. Doch Tschechien ist mit einer Zustimmung von mehr als drei Vierteln der Bevölkerung Mitglied der EU geworden. Und diskutiert nun mit über die gemeinsame Entwicklung des Kontinents.