Nachfahren des DDR-Malers Willi Sitte: Auf der Suche nach dem Gemälde „Lidice“
Willi Sitte wird von den Kunsthistorikern zwiespältig bewertet. Für die einen war er der angepasste „Staatsmaler“ der DDR, für die anderen ein eher unangepasster Künstler mit eigenem Willen und Stil. Eine bedeutsame Episode seiner Biografie zeigt ihn jedenfalls als tschechischstämmigen Deutschen, der zur Aussöhnung nach dem Massaker von Lidice beitragen wollte. Das Gemälde, das er dafür angefertigt hat, ist seit fast 60 Jahren verschollen. Sittes Nachfahren sind weiter auf der Suche danach.
„Willi Sitte war einer der bedeutendsten Maler in der DDR. Er hat maßgeblich an der dortigen künstlerischen Entwicklung mitgewirkt und diese geprägt. Dies etwa als Dozent und später als Professor an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle im heutigen Sachsen-Anhalt.“
Aron Boks weiß sich diplomatisch auszudrücken, wenn es um den 2013 verstorbenen Künstler geht. Dabei besteht zwischen beiden Männern eine familiäre Bande. Willi Sitte war Boks Urgroßonkel. Obwohl sie sich nie persönlich kennengelernt haben, fühlt sich der junge Autor und Poetry-Slammer dem Erbe des Malers verpflichtet. Denn in diesem gibt es einen weißen Fleck. Das Sitte-Bild „Lidice“ wird nämlich seit fast 60 Jahren vermisst. Und Boks hat es sich zur Aufgabe gemacht, es zu finden oder zumindest die Umstände seines Verschwindens zu klären.
Zur Entstehungszeit dieses Gemäldes, also in den Jahren 1959 und 1960, wurde Willi Sitte von den DDR-Oberen noch argwöhnisch beobachtet. Nach Kriegsende, als der desertierte Wehrmachtssoldat schon längst bei den Partisanen kämpfte, war Sitte noch mehrere Monate in Italien geblieben, wo er 1946 auch seine erste Ausstellung abhielt. Womöglich stammte daher auch sein kosmopolitisches Wesen, das in der jungen DDR als westlich orientiert und Amerika-freundlich interpretiert wurde. Dennoch wählte Sitte die Saale-Stadt Halle als seinen Lebens- und Arbeitsmittelpunkt. Aron Boks blickt auf die weitere Entwicklung:
„Viele Kritiker_innen streiten sich darum, wie es passieren konnte, dass Willi Sitte zum hofierten Künstler wurde, als der er ja galt. Ob das wirklich so stimmt, ist eine andere Sache. Denn auch er wurde weiterhin stark von der Stasi bewacht. Das änderte sich natürlich, als er Präsident des Verbandes Bildender Künstler wurde und eine Funktionärsrolle einnahm.“
Dieses Engagement reichte in den 1980er Jahren bis hin zu einem Sitz im Zentralkomitee der SED. Angeblich soll sich damals das Bonmot verbreitet haben „Lieber vom Leben gezeichnet, als von Sitte gemalt.“ Die heute oft bemühte Bezeichnung als „Staatsmaler“ betrachtet Aron Boks allerdings mit Vorbehalten. Für ihn sei fraglich, ob dieser Begriff tragfähig ist, sagt der Sitte-Nachfahre und sieht hier die weitere Forschung in der Pflicht.
Weißer Fleck im Nachlass
Gut dokumentiert hingegen ist Sittes Lebenswerk. Eine eigens gegründete Stiftung in Merseburg verwaltete seit 2006 den Nachlass von rund 300 Bildern und 1000 Zeichnungen, musste sich Anfang des Jahres aber auflösen. Im Kunstmuseum Moritzburg in Halle wird derzeit, im hundertsten Jahr nach Sittes Geburt, eine große Retrospektive vorbereitet, die im Oktober eröffnet werden soll. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, wird dabei ein Werk fehlen: das Bild „Lidice“ nämlich, das das Massaker der Nationalsozialisten an der Bevölkerung des mittelböhmischen Dorfes darstellt. 1942 hatten die deutschen Besatzer mit der Auslöschung von Lidice und Ležáky das Attentat auf Reinhard Heydrich gerächt. Nur 160 der ursprünglich 503 Einwohner von Lidice überlebten die Verschleppungen und Deportationen in die Vernichtungslager.
Aron Boks erklärt, warum dies ein wichtiges Thema für seinen Urgroßonkel war:
„Willi Sitte ist im damaligen Kratzau, im heutigen Chrastava geboren. Seine Mutter war Tschechin, und er wuchs zweisprachig auf. Er hatte also einen biografischen Bezug zur damaligen Tschechoslowakei. Er war Antifaschist und hat die Gräueltaten der Nationalsozialisten aufs Schärfste verurteilt. Dies wurde zum wichtigen Bestandteil seiner Kunst. Daher haben ihn auch diese Massaker beschäftigt.“
In dem großformatigen Gemälde „Lidice“ habe Sitte zudem seine Erinnerungen an den Ostfronteinsatz verarbeitet, fährt Boks fort. Die künstlerische Versöhnungsgeste sei bei der DDR-Führung aber nicht gut angekommen:
„Sitte war vom Krieg geprägt. Er hat ihn verurteilt und versucht, das Leid der Bevölkerung durch des Verbrechens von Lidice in einem Gemälde auszudrücken. Dies wurde von der Kulturpolitik der DDR als formalistisch angesehen und als dekadent – bezogen auf das dargestellte Frauenbild. Daraus entstand ein Konflikt. Für Sitte war dieses Gemälde wichtig. Er hat darüber versucht, mit formalistischen – wie es genannt wurde – Methoden einen Ausdruck zu finden, Leid und Schrecken darzustellen.“
Dabei kam bei der Entstehung des Bildes die formelle Bruderschaft der beiden Ostblockstaaten DDR und ČSSR zum Tragen. Es waren nämlich Studenten der Prager Kunsthochschule, die auf die Fertigstellung drängten. Sie wollten das Werk der Gedenkstätte Lidice zum 20-jährigen Jahrestag des Massakers als Geschenk zukommen lassen.
„Dazu gab es schon Planungen. Eine Delegation von DDR-Bürger_innen sollte nach Lidice fahren und die feierliche Übergabe durchführen. Doch aus ungeklärten Gründen kam das Gemälde dort nicht an. Willi Sitte hat es auch bei seinen späteren Recherchen nicht gefunden, und es ist bis heute ein Rätsel, wo das Bild ist. Keiner weiß es.“
Zu modern für die SED-Kulturpolitik
Der Maler kam persönlich nach Lidice zur Gedenkfeier anlässlich des 20. Jahrestags. Dort musste er feststellen, dass sein Bild fehlte. Zeit seines Lebens vermutete er, dass staatliche Kulturfunktionäre und der Geheimdienst ihre Finger im Spiel hatten. Aron Boks wirft ein, dass auch Sittes Biografin Gisela Schirmer dies für möglich hält. Zumindest die Öffentlichkeit der DDR hatte noch die Möglichkeit, das fertige Bild – das im Übrigen wie ein Altar aus drei Teilen bestand – zu sehen:
„Es wurde der DDR-Bevölkerung im Kunstmuseum in Moritzburg gezeigt, und dann sollte es weiter in die Tschechoslowakei gebracht werden. Es gibt die Theorie, dass es in Prag zwischengelagert wurde. Willi Sitte hat es bei seinen Recherchen dort aber nicht gefunden. Es bleibt also eine Überlegung, ob der Geheimdienst der DDR, also die Stasi, etwas damit zu tun hatte – oder ob es wirklich verloren gegangen ist.“
Aron Boks weiß noch zu berichten, dass Alfred Kurella, Mitglied der Ideologischen Kommission beim Politbüro des ZK der SED, vor der Verschickung des Bildes sich mit einem Kompromissangebot an Sitte wandte. Den Vorschlag, die dargestellte Frau zu übermalen, um sie weniger traurig wirken zu lassen, lehnte der Maler allerdings strikt ab. Sein Nachkomme erläutert die Hintergründe für die harte SED-Linie:
„Es wäre, glaube ich, zu einfach zu sagen: Das Künstlerische hat die DDR-Funktionäre gestört. Die Formalismus-Debatte birgt ja ganz viel in sich. In dem Stil hat man eine Verwestlichung der Bevölkerung gesehen, einen drohenden Einfluss der Monopolkapitalisten und nicht zuletzt den Klassenfeind. Dem durfte, aus Sicht der Kulturfunktionäre, keine Türen geöffnet werden.“
Obwohl seit dem Verschwinden des Gemäldes mehrere Jahrzehnte vergangen sind und auch die Kunsthistorikerin Schirmer schon intensiv, aber erfolglos alle Spuren verfolgt hat, hat der junge Künstler Aron Boks nun noch einmal eine Suchkampagne gestartet. Sollte das Werk tatsächlich noch gefunden werden, könnte es nach so langer Zeit doch an seinen Bestimmungsort gelangen. Zuvor ist dem Bild aber vorübergehend ein Platz in Halle reserviert:
„Zunächst würde es wohl bei der großen Willi-Sitte-Ausstellung im Herbst 2021 in der Moritzburg in Halle gezeigt werden. Dort hat es momentan einen Platz, der groß genug ist für dieses drei Meter breite und drei Meter hohe Werk. Danach würde es bestimmt an die Gedenkstätte Lidice übergeben werden. Ich denke, das wäre in Willi Sittes Sinne.“
Jegliche Hinweise zu dem Bild „Lidice“ von Willi Sitte und zu seinem möglichen aktuellen Aufenthaltsort nimmt Aron Boks gern entgegen. Er ist per Email zu erreichen unter: [email protected]. Die Ausstellung „Sittes Welt. Willis Sitte – Die Retrospektive“ findet vom 3. Oktober 2021 bis 9. Januar 2022 im Kunstmuseum Moritzburg in Halle statt. Sie zeigt einen Querschnitt seiner Arbeiten aus den späten 1930er bis in die 2000er Jahre.