80 Jahre nach der Auslöschung von Lidice: Tagebücher einer Überlebenden aufgetaucht

Gedenkstätte in Lidice

In Lidice sind bisher unbekannte Tagebücher einer Überlebenden aufgetaucht. Sie sind der achtjährigen Boženka Rohlová gewidmet, einem der 82 Kinder, die nach der Auslöschung des Dorfes von den Nationalsozialisten im KZ Chelmno vergast wurden. Ihre Mutter Emilie kehrte nach Kriegsende nach Lidice zurück und schrieb ihre Erinnerungen für ihre Tochter auf, die sie aber nie wiedersah.

Václav Rohla | Quelle:  Občanský spolek Lidice

Als die Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 das Dorf Lidice überfielen, um das Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich zu rächen, wurde auch Václav Rohl sofort erschossen. Seine achtjährige Tochter Boženka wurde ins Konzentrationslager im polnischen Chelmno verschleppt, wo sie in der Gaskammer verendete. Dies wusste Emilie Rohlová, die Ehefrau und Mutter der beiden, jedoch noch nicht, als sie selbst zu Kriegsende aus dem KZ Ravensbrück befreit wurde.

Sie kehrte nach Lidice zurück, das ab 1948 dann wieder aufgebaut wurde. Schon vorher begann Emilie Rohlová, Tagebuch zu schreiben. In den Texten wandte sie sich an ihre Tochter Boženka in der Hoffnung, sie bald wiederzusehen. Zitat:

„Mein goldenes Mädchen Boženka! Weißt Du, meine Kleine, wie sehr ich Dich heute vermisse? Ich habe so große Angst, dass Du Hunger hast und traurig bist. Bald wirst Du mir davon erzählen. Ich habe Papas Foto bekommen. Immer noch sehe ich ihn vor mir, und alles wird wieder so lebendig, dass ich sehr traurig bin.“

Veronika Kellerová | Foto:  ČT24

Erst vor kurzem hat Veronika Kellerová (parteilos), die heutige Bürgermeisterin von Lidice, diese Tagebücher erstmals lesen können. Sie beschreibt:

„Die Aufzeichnungen beginnen am 16. Juli 1945. Es handelt sich um Nachrichten darüber, was Emilie an dem Tag erlebt hat und wie sie sich fühlt. Am Muttertag zum Beispiel schreibt sie, dass es ihr sehr schlecht gehe. Denn sie erinnert sich daran, wie sie diesen Feiertag in den vorherigen Jahren mit ihrer Tochter erlebt hat und wie Boženka ein Geschenk für die liebe Mutter gesucht hat.“

Das wertvolle zeitgenössische Dokument wurde der Bürgermeisterin Anfang des Monats übergeben, nur wenige Tage vor dem 80. Jahrestag der Vernichtung von Lidice. Überreicht hat es der Großneffe von Emilie Rohlová, Josef Kapitán. Er selbst lebt heute im nahegelegenen Hostouň / Hostaun. In den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks erzählte er dazu:

Emílie Rohlová | Quelle:  Občanský spolek Lidice

„Meine Frau hat sich um unsere Tante gekümmert. Emilie war fast 90, als sie starb. Als wir ihre Wohnung aufgelöst haben, fanden wir das Tagebuch. Es war in Papier eingewickelt und mit einer Schnur gebunden.“

Emilie Rohlová habe die Hefte sorgfältig verpackt als Geschenk für Boženka aufbewahrt und gehofft, sie eines Tages gemeinsam mit ihrer Tochter durchlesen zu können:

„Emilie war sehr stark und hat nie geweint. Immer hat sie gehofft, dass Boženka noch irgendwo ist und vielleicht nach Deutschland mitgenommen worden sei. Das war aber unsinnig. Denn wir sind in der Familie eher dunkle Typen, und ihre Tochter hatte ganz schwarze Haare. Die Deutschen wollten ja aber nur die blonden.“

Damit spielt Kapitán darauf an, dass einige wenige Kinder aus Lidice 1942 in ein Lebensborn-Heim zur Germanisierung verschleppt wurden. Boženka Rohlová aber wurde in den Tod geschickt.

Božena Rohlová | Quelle:  Občanský spolek Lidice

Ihre Mutter Emilie hat drei Hefte hinterlassen. In dem umfangreichsten beschreibt sie das Leben vor dem Krieg, den Umzug zu ihrem Ehemann nach Lidice und den vernichtenden Überfall auf das Dorf im Jahr 1942. Die anderen beiden Hefte sind der Tochter gewidmet, die Emilie zuletzt als Achtjährige im Gymnasium in Kladno gesehen hatte. Zitat:

„Heute ist Weihnachten. Gestern habe ich Papa zwei Kerzen gebracht – eine von Dir und eine von mir. Ich habe dafür gebetet, dass Du bald wieder zu mir nach Hause kommst. Tante Židová sagt, dass Du die wenigsten Punkte für die Eindeutschung bekommen hast. Wie es mich beseligt, dass sie Dich nicht bezwingen konnten – weder durch ihre Kultur, noch durch ihr Verhalten, wie sie immer sagten. Diese Bestien.“

Emilie Rohlová hat nach dem Krieg nicht wieder geheiratet und hatte auch keine weiteren Kinder. Sie starb 1991.