Die Vernichtung von Lidice und der Aufschrei in der Welt
Es gibt einen Ort in Tschechien, der stellvertretend steht für die Gräuel der Deutschen während des Zweiten Weltkriegs: Es ist Lidice. In der Nacht auf den 10. Juni 1942 ermordeten die Nazis in dem kleinen Ort in Mittelböhmen die männliche Bevölkerung, verschleppte die Frauen ins KZ und die Kinder größtenteils in Vernichtungslager. Der Ort wurde niedergebrannt. Anlass für diesen Terrorakt vor genau 80 Jahren war das erfolgreiche Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, Reinhard Heydrich.
Reinhard Heydrich war der höchste Stellvertreter Hitlers im „Protektorat Böhmen und Mähren“. Schon bald nach seinem Amtsantritt im Herbst 1941 entfachte er ein Terrorregime gegen die tschechische Bevölkerung. Damit wollte er den Widerstand brechen. Heydrich galt daher als „der Henker von Prag“. Deswegen bereiteten tschechoslowakische Exilpolitiker in Großbritannien ein Attentat auf ihn vor. Dazu wurden die Fallschirmspringer Jan Kubiš und Jozef Gabčík ins besetzte Böhmen und Mähren geschickt. Erst Monate nach ihrem Absprung konnten sie ihre Pläne umsetzen. Am 27. Juni 1942 verübten sie den Anschlag auf Heydrich. Dieser starb acht Tage später an seinen Verletzungen.
Für Berlin war der Anschlag auf einen solch hochgestellten NS-Politiker ein Schock. Und es war klar, dass die Nazis Rache nehmen würden. Eduard Stehlík leitet die Gedenkstätte Lidice. Gegenüber Radio Prag International schildert er:
„Die erste Entscheidung traf damals der SS-Gruppenführer und spätere Staatsminister für Böhmen und Mähren Karl Herrmann Frank. Noch am Tag des Attentats ließ er das Standrecht ausrufen. Das heißt, es wurden Standgerichte einberufen und zehn Hinrichtungsstätten aufgebaut. Im Prinzip konnte dort jeder landen, der einfach nur beschuldigt wurde, das Attentat auf Heydrich gebilligt zu haben. Darunter fiel etwa schon, im Restaurant zu lachen. Oder ein Foto von Heydrich in den Papierkorb zu werfen. Alles Erdenkliche konnte es sein.“
Polizei und Gestapo leiteten sofort Ermittlungen zu dem Anschlag ein. Die tschechische Bevölkerung wurde in der Presse und im Radio dazu aufgerufen, die Heydrich-Attentäter auszuliefern.
„Die nationalsozialistischen Sicherheitsorgane bemühten sich mit allen Kräften, die beiden Attentäter zu finden, über die sie von Augenzeugen am Tatort unterrichtet worden waren. Doch sie hatten keinen Erfolg. Während der Ermittlungen gelangte am 3. Juni ein Brief in die Hände der Gestapo, der auf irgendeine Weise den Eindruck erweckte, dass sein Verfasser einer der Attentäter gewesen sein könnte. Die Gestapo verhaftete die Adressatin des Briefes, eine gewisse Anna Maruščáková, die in einer Fabrik in Slaný arbeitete. Bei ihrem Verhör erfuhr die Gestapo, dass der Verfasser des Briefes die Empfängerin bei einem Treffen gebeten hatte, der Familie Horák in Lidice auszurichten, dass ihr Sohn Josef am Leben und gesund sei“, so der Militärhistoriker Stehlík.
Warum gerade Lidice?
Die deutsche Geheimpolizei erfuhr dann von der Polizeidienststelle im nahen Buštěhrad, dass es eine weitverzweigte Familie Horák in Lidice gab. Und zudem, dass einer der Angehörigen, Josef Horák, als Offizier der tschechoslowakischen Armee im Dezember 1939 ins Ausland geflohen war – und zwar zusammen mit einem weiteren Offizier aus Lidice, Josef Stříbrný. Beide sollten sich zwischenzeitlich den tschechoslowakischen Streitkräften in Großbritannien angeschlossen haben. Laut Stehlík legte die Gestapo das so aus, dass diese beiden Männer theoretisch am Ort des Anschlags auf Heydrich gewesen sein könnten. Und weiter der Historiker:
„Weil sich keine andere Spur fand, entschieden sie sich zur Aktion gegen Lidice. Meiner Meinung nach war die Initialzündung dabei, dass zum Zeitpunkt der ersten Razzia in Lidice in der Nacht auf den 4. Juni 1942, bei der Horák und Střibrný nicht gefunden wurden, Heydrich in einem Krankenhaus in Prag starb. Das heißt, man hatte die Täter nicht, aber der stellvertretende Reichsprotektor war nicht mehr nur schwer verletzt, sondern schon tot. Und da beschlossen sie zu reagieren. Wohl am 7. Juni entstand der Plan, Lidice auszulöschen. Denn zu diesem Zeitpunkt sollen Gestapo-Mitglieder in der nahen Stadt Kladno gesagt haben, die Tschechen würden schon bald etwas erleben, was sie noch nie erlebt hätten.“
Lidice hatte damals 503 Einwohner. Am Abend des 9. Juni umstellten Angehörige der Gestapo, des Sicherheitsdienstes und der Schutzpolizei unter dem Kommando von SS-Offizieren mit Unterstützung der tschechischen Gendarmerie den Ort und blockierten alle Zufahrtswege. In der Nacht wurden die Dorfbewohner zusammengetrieben. Das Massaker, das die Nazis dann in Lidice anrichteten, machten sie sogar publik. Am 10. Juni hieß es in den Sendungen des deutschen Rundfunks im Protektorat:
„Achtung, Achtung. Amtlich wird bekannt gegeben: Im Zuge der Fahndungen nach den Mördern des SS-Obergruppenführers Heydrich wurden einwandfreie Hinweise dafür gefunden, dass die Bevölkerung der Ortschaft Liditz bei Kladno dem in Frage kommenden Täterkreis Unterstützung und Hilfe leistete. Die betreffenden Beweismittel wurden trotz Befragung ohne Mithilfe der Ortseinwohner erbracht. Die damit bekundete Einstellung zum Attentat wird noch durch weitere reichsfeindliche Handlungen unterstrichen, wie Funde von staatsfeindlichen Druckschriften, Waffen- und Munitionslagern eines illegalen Senders sowie bewirtschafteter Waren im größten Ausmaße, und durch die Tatsache, dass Ortseinwohner sich im aktiven Dienste des Feindes im Ausland befinden. Nachdem die Einwohner dieses Dorfes durch ihre Tätigkeit und durch die Unterstützung der Mörder von SS-Obergruppenführer Heydrich gegen die erlassenen Gesetze schärfstens verstoßen haben, sind die männlichen Erwachsenen erschossen, die Frauen in ein Konzentrationslager überführt und die Kinder einer geeigneten Erziehung zugeführt worden. Die Gebäude des Ortes sind dem Erdboden gleichgemacht und der Name der Gemeinde ist ausgelöscht worden.“
Diese Radiomeldung sollte als Abschreckung dienen. Tatsächlich verfuhren die deutschen Besatzer aber noch grausamer mit den Bewohnern des Ortes, als dies im Rundfunk verkündet wurde. Eduard Stehlík:
„Im Fall der Männer hieß das, dass alle männlichen Bewohner ab 15 Jahren erschossen wurden. Einer von ihnen hatte sogar dieses Alter noch nicht erreicht. In Lidice brachte man also bereits Kinder um. Die Frauen wurden nicht einfach nur ins Konzentrationslager geschickt. Im offiziellen Befehl stand nämlich zudem noch: lebenslänglich. Das ist ein bedeutender Unterschied. Und bei den Kindern war letztlich die Lüge am allergrößten. Denn sie wurden nicht umerzogen. Von den insgesamt 105 Kindern des Ortes tauchten nach dem Krieg nur noch 17 auf. 82 von ihnen wurden in Gaswägen in Chelmno ermordet. Das war brutaler Mord und keine Erziehungsmaßnahme. Aber auch so war die gesamte Welt geschockt von der Nachricht. Als dann die Nazis kurze Zeit später in selber Weise die kleinere Siedlung Ležáky auslöschten, prahlten sie nicht mehr mit ihrer Tat.“
Solidarität in USA, Großbritannien und Lateinamerika
Laut Stehlík erlebte die nationalsozialistische Propaganda im Fall von Lidice ein Debakel. Denn so sehr man auch im Ausland entsetzt war über das Verbrechen, so wenig führte dies zu einer Schockstarre. Ganz im Gegenteil…
„Als einer der ersten reagierte der US-amerikanische Marineminister Frank Knox. Das war drei Tage nach dem Massaker. Er sagte: ‚Sollten unsere Kinder dereinst fragen, warum wir diesen Krieg geführt haben, werden wir ihnen von Lidice erzählen.‘ Sehr intensiv waren die Reaktionen ebenso in der lateinamerikanischen Welt sowie in Großbritannien. In einer der ersten Nachrichten war Lidice als Bergarbeitergemeinde bezeichnet worden. Zwar entsprach das nicht der Realität, denn mehr Bewohner dort waren als Stahlarbeiter denn als Bergarbeiter beschäftigt gewesen. Aber bei den Kumpels in Großbritannien schlug die Meldung ein. Sie gründeten die Bewegung ‚Lidice should live‘. Ihr Ziel war, die Gemeinde zu erneuern, und sie begannen dafür auch Geld zu sammeln. Ebenso schnell reagierte die Filmindustrie. So entstand der Streifen ‚The Silent Village‘. In diesem spielten die Bergleute des Ortes Cwmgiedd in Wales praktisch das Schicksal von Lidice nach“, berichtet Stehlík.
Warum stieß aber gerade der Ort Lidice auf solchen Widerhall? Denn die Nationalsozialisten haben noch viele weitere Massaker überall in den von ihnen besetzten Gebieten angerichtet. Als Erklärung nennt Stehlík zum einen, dass sich die Nazis selbst ihrer Tat rühmten. Und weiter:
„Zum Zweiten muss man sich bewusst machen, dass sich die anderen Orte – wie jene vor allem in Russland, Belarus oder der Ukraine – mitten im Kriegsgebiet befanden. Dort wurde zum Teil noch grausamer mit den Bewohnern verfahren, indem diese etwa in Scheunen zusammengetrieben und lebendig verbrannt wurden. Aber in gewisser Weise konnte dies als Teil des Kampfes gegen Partisanen gelten. Dahingegen lag Lidice weit im Hinterland. Und auf dem Boden des Protektorats gab es keine Kampfhandlungen. Zwar unterstand das Gebiet der deutschen Verwaltung, und der Vertreter des Reiches zögerte auch nicht, Menschen wegen der Beteiligung am Widerstand hinrichten zu lassen. Dennoch herrschte relative Ruhe. Dass vor diesem Hintergrund dann ein Dorf eingekesselt und vernichtet wurde, war sehr schockierend.“
Städte und Gemeinden in vielen Teilen der Welt entschieden sich, als Akt der Solidarität Straßen oder Plätze nach dem mittelböhmischen Ort zu benennen. Manche Kommunen änderten für eine gewisse Zeit sogar ihren Namen. Besonders in Südamerika wurde zudem in den Familien populär, eine Tochter Lidice zu nennen.