Ein Kind aus Lidice, das überlebt hat – Jiří Pitín erzählt

Verbrannte Martinskirche in Lidice

Das Massaker von Lidice ist eines der schrecklichen Ereignisse des Zweiten Weltkrieges. Am 10. Juni 1942 wurde die Gemeinde zerstört. Alle männlichen Dorfeinwohner über 15 Jahre wurden erschossen, die Frauen und Kinder wurden in Konzentrationslager verschleppt. Jiří Pitín war zum Zeitpunkt des Terroraktes kaum sieben Wochen alt. Seine Mutter starb im Konzentrationslager, sein Vater wurde in Prag hingerichtet und seine Schwester im Vernichtungslager ins Gas geschickt. Der Waise wuchs nach dem Krieg bei seiner Tante auf. RPI hat mit dem Zeitzeugen gesprochen.

Bild aus dem Film,  der über die Vernichtung des Dorfes Lidice durch die Nationalsozialisten gedreht wurde | Quelle:  Militärhistorisches Institut in Prag

Wenn er damals nur ein Jahr älter gewesen wäre, wäre er jetzt auf dem Denkmal für die ermordeten Kinder von Lidice abgebildet, sagt heute Jiří Pitín:

„Ich würde da Hand in Hand mit meiner Schwester stehen. Zum Glück war ich nur sieben Wochen alt. Deswegen kann ich jetzt hier mit Ihnen sprechen.“

Jiří Pitín wurde am 23. April 1942 in Kladno geboren, seine Familie lebte aber in Lidice. Sie wohnten im Haus Nummer 92 am Südhang des Dorfes:

Jiří Pitín | Foto:  Post Bellum

„Meine Mutter stammte aus der Gemeinde Hostouň, mein Vater aus Buštěhrad. Nach der Hochzeit wollten sie in der geographischen Mitte zwischen den beiden elterlichen Familien leben und ließen sich in Lidice nieder. Leider – zu ihrem und auch meinem Schaden.“

Das Schicksal sei ihm wohlgesonnen gewesen, sagt heute Pitín. Denn er erinnere sich nicht an die Zeit ab seiner Geburt bis zum Ende des Krieges. Trotzdem kennt er seine Familiengeschichte aus Erzählungen und anderen Quellen sehr genau:

„Am dritten Tag kam das Schrecklichste: Die Kinder wurden von den Müttern getrennt.“

„Am 9. Juni war meine Mutter zu Besuch bei ihrer Schwester in Prag. Im ersten Stockwerk des Hauses, in dem die Tante wohnte, war die Ambulanz eines Kinderarztes, der mich untersucht hat. Die Tante erzählte mir später, sie habe meine Mutter überreden wollen, dort über Nacht zu bleiben und erst am nächsten Morgen nach Hause zu fahren. Meine Mutter antwortete aber, ihr Mann Franta arbeite Nachtschicht in der Poldi-Hütte, komme morgens müde und hungrig nach Hause, und sie wolle sich um ihn kümmern.“

Blažena Pitínová | Foto:  Post Bellum

Blažena Pitínová fuhr also noch am Abend nach Lidice zurück. Die Gemeinde wurde in der Zwischenzeit umzingelt. Man durfte nur rein ins Dorf, aber nicht mehr raus:

„Sehr früh morgens kamen deutsche Soldaten in die Häuser und trieben die Menschen hinaus. Man durfte nur Dokumente und Wertsachen mitnehmen. Die Frauen und Kinder wurden zunächst in die Schule neben der Kirche und danach in den Turnsaal des Gymnasiums in Kladno gebracht. Sie dachten, ihre Dokumente würden dort kontrolliert, und man werde sie daraufhin wieder zurückschicken. Das war aber nicht der Fall. Sie verbrachten dort drei Tage und zwei Nächte auf Stroh und Heu. Am dritten Tag kam das Schrecklichste: Die Kinder wurden von den Müttern getrennt. Nur Mütter können sich vorstellen, was das bedeutet hat. Ich stelle mir meine Mutter vor: Sie hat mich, ein siebenwöchiges Kind im Arm, und daneben meine zehnjährige Schwester an der Hand gehalten. Die Deutschen wandten eine List an: Sie versprachen, dass die Kinder in Bussen vorausgeschickt würden, und die Mütter ihnen in Zügen nachfolgen. Doch es war alles anders: Die Frauen wurden in den Zügen nach Berlin gebracht und dann noch etwa 80 Kilometer nach Norden, ins KZ Ravensbrück.“

Jiří Pitín mit seiner Tante in einer Säuglingsanstalt in Prag | Foto:  Post Bellum

Eine Ausnahme galt für Mütter von Kindern unter einem Jahr. Sie verbrachten vier Wochen mit ihren Säuglingen in der Kleinen Festung in Theresienstadt. Unter ihnen war auch Blažena Pitínová. Der Monat in Theresienstadt war die letzte Zeit, die sie und Jiří zusammen waren. Nach vier Wochen folgte die Mutter den anderen Frauen aus Lidice ins Konzentrationslager Ravensbrück, und der Sohn kam im Alter von weniger als drei Monaten in eine Säuglingsanstalt in Prag.

„Außer meiner Mutter war auch meine Oma nach Ravensbrück geschickt worden. Die Frauen besserten dort vor allem Uniformen für die Wehrmacht aus. Zunächst starb meine Oma. Und zu Weihnachten 1944 nahm sich meine Mutter das Leben. Weihnachten ist seitdem kein frohes Fest für mich.“

„Zu Weihnachten 1944 nahm sich meine Mutter das Leben.“

Die Männer aus Lidice wurden gleich vor Ort ermordet. Die Deutschen trieben sie in den Hof der Familie Horák und erschossen sie dort am Morgen des 10. Junis. Jiřís Vater František war nicht unter diesen mehr als 170 Dorfbewohnern. Er hatte zu diesem Zeitpunkt noch eine kleine Chance, sich zu retten. Doch das grausame Schicksal traf auch ihn, wie sein Sohn weitererzählt:

Lidice | Foto:  Militärhistorisches Institut in Prag

„In Lidice wurde der ältere Bruder meines Vaters erschossen. Mein Vater arbeitete Nachtschicht. Auf dem Weg nach Hause hörte er von den Menschen, sie hätten Schüsse und Explosionen in Lidice gehört sowie Rauch gesehen. Er ging nicht ins Dorf und versteckte sich eine Woche lang im Wald in der Umgebung. Aber er hatte nichts zu essen. Mein Vater traf dort einen Förster und bat ihn, ihm Brot zu bringen. Der Förster willigte ein. Aber er ging zur Gestapo und erstattete Anzeige. Mein Vater wurde zur Gestapo nach Prag gebracht. Am 16. Juni wurde er zusammen mit den Familien Horák und Stříbrný aus Lidice, mit weiteren Arbeitern, die in jener Nacht Schicht gehabt hatten, sowie einem Mann, der zuvor im Krankenhaus gelegen hatte, auf dem Schießplatz Kobylisy erschossen.“

„Ein Förster ging zur Gestapo und erstattete Anzeige. Mein Vater am 16. Juni auf dem Schießplatz Kobylisy erschossen.“

Die nationalsozialistische Propaganda verkündete damals, die Kinder aus Lidice würden in deutsche Familien gebracht und dort erzogen. Doch die Realität war anders. Nach der Trennung von ihren Müttern wurden die meisten Kinder nach Polen deportiert. Marie Pitínová, die zehnjährige Schwester von Jiří, war eines dieser Kinder:

Jiří Pitín | Foto:  Post Bellum

„Sie fuhren mit einem Zug mehrere Tage lang bis nach Łódź (damals auf Deutsch Litzmannstadt, Anm. d. Red.). Sie wurden in eine Textilfabrik hineingetrieben, schliefen dort auf dem Betonboden, waren hungrig und froren. Einige Kinder bekamen Postkarten und sollten diese ihren Verwandten schicken. Auch meine Tante erhielt eine Karte von meiner Schwester, die ich heute noch besitze. Marie schrieb der Tante, sie solle ihr Essen und Kleidung schicken, und zwar möglichst schnell, da sie nicht wisse, wann sie weiterfahre.“

Nur ein kleiner Teil dieser Kinder wurde zur Germanisierung in ein Lebensborn-Heim gebracht. Marie Pitínová musste tatsächlich ihre Reise fortsetzen:

„Die Kinder wurden sie in einen Lkw getrieben. Man verschloss die Türen und führte einen Schlauch vom Auspuff des Benzinmotors ins Wageninnere.“

„Die Gestapo in Łódź hatte in Berlin nachgefragt, was sie mit den Kindern aus Lidice machen solle. Keine besondere Behandlung sei erwünscht, hieß die Antwort. Die Kinder wurden ins Vernichtungslager Chelmno (auf Deutsch Kulmhof, Anm. d. Red.) geschickt. Dort wurden sie in einen Lkw getrieben. Man verschloss die Türen und führte einen Schlauch vom Auspuff des Benzinmotors ins Wageninnere. Nachdem man sie ermordet hatte, wurden die Leichen in diesen Wägen direkt zu Massengräbern im Wald gebracht und dort vergraben.“

Kleine Festung Theresienstadt | Foto: Txllxt TxllxT,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0 DEED

Insgesamt 82 Jungs und Mädchen aus Lidice wurden auf diese Weise in Chelmno vergast.

Als Säugling, dessen „rassische Herkunft“ nach Interpretation der Nazis noch nicht abzuschätzen war, wurde Jiří Pitín zunächst mit seiner Mutter in die Kleine Festung Theresienstadt gebracht. Später steckte man ihn mit den anderen sechs Kleinstkindern aus Lidice in eine Säuglingsanstalt in Prag:

„Dort waren wir bis Ende des Jahres 1942. Ab Januar 1943 waren wir im Masaryk-Heim in der heutigen Thomayer-Klinik untergebracht. Damals diente sie als Krankenhaus für die deutsche Wehrmacht und die Luftwaffe.“

„Meine Tante hat mich nach dem Krieg aufgenommen und erzogen.“

Insgesamt starben 340 Einwohner von Lidice. Nur 143 Frauen und 17 Kinder überlebten den Krieg. Jiří Pitín war zur Zeit der Befreiung von den Nazis drei Jahre alt. Die nächste Verwandte, die er noch hatte, war die Schwester seiner Mutter, Marie Kvasničková. Sie war damals 50 Jahre alt.

Marie Kvasničková | Foto:  Post Bellum

„Ich hatte zum Glück eine Tante, die älteste Schwester meiner Mutter. Sie lebte im Prager Stadtteil Dejvice. Sie hatte keine Kinder, keine Familie. Daher hat sie mich aufgenommen und erzogen. Ich habe bis zu meinem Militärdienst bei ihr gelebt.“

1955, im Alter von 13 Jahren, erhielt Pitín vom tschechoslowakischen Staat ein Haus im neu erbauten Lidice. Er und seine Tante zogen dort ein. Später, nach seiner Hochzeit, verbrachte er dort zwei Jahre mit seiner Frau. 1967 verkaufte er das Haus und ging nach Prag, wo er arbeitete. Er war unter anderem als Verkäufer, Elektriker und in weiteren technischen Berufen tätig, studierte aber auch vier Semester Philosophie und Geschichte an der Prager Karlsuniversität. Heute besucht der 80-Jährige Schulen und erzählt den jungen Menschen seine Familiengeschichte.

Lidice | Quelle:  Militärhistorisches Institut in Prag
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