Projekt zu Massaker von Lidice: Hallenser Schüler beschäftigen sich in Prag mit Erinnerungskultur
Vergangene Woche war bereits zum dritten Mal eine Schülergruppe aus Halle (Saale) in Prag. Sie nehmen an einem Austauschprojekt teil, bei dem es um das Massaker von Lidice sowie die Taten von NS-Reichsprotektor Reinhard Heydrich im Protektorat Böhmen und Mähren geht. Denn der Kriegsverbrecher wurde in Halle geboren.
„Ich nehme daran teil, weil ich mehr über die Geschichte lernen und auch ein bisschen etwas von Prag sehen wollte.“
Helen musste nicht lange überlegen, ob sie am Schüleraustausch mit Prag teilnehmen will. Sie besucht die 11. Klasse des Lyonel-Feininger-Gymnasiums in Halle, und gemeinsam mit einigen ihrer Mitschüler verbrachte sie die vergangene Woche in der tschechischen Hauptstadt. Es war bereits das dritte Mal, dass junge Menschen aus der Saalestadt nach Prag gekommen sind.
Gegenstand des aktuellen und der beiden vorhergehenden Austausche ist ein düsteres Kapitel der deutsch-tschechischen Geschichte. So wird im Rahmen des Programms vor allem die Person Reinhard Heydrich thematisiert. Dieser wurde 1941 zum stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren. Als Reaktion auf das tödliche Attentat auf den „Henker von Prag“ löschten die Nationalsozialisten 1942 die Dörfer Lidice und Ležáky aus, ein Großteil der dortigen Bevölkerung wurde an Ort und Stelle ermordet oder in Konzentrationslager deportiert.
Während Heydrichs Geschichte weitestgehend bekannt sei, habe man sich in der Heimatstadt des Kriegsverbrechers, in Halle, lange mit der Auseinandersetzung mit seiner Person schwergetan, sagt Norbert Böhnke. Er arbeitet für das Stadtmuseum Halle:
„Es gab immer wieder Versuche in diese Richtung. 2006 sollte anlässlich des Stadtjubiläums etwa eine Ausstellung von Prag nach Halle geholt werden. Das hat aus organisatorischen Gründen aber nicht geklappt. Also haben wir uns nun auf die Suche nach einem Partner gemacht, der Interesse haben könnte. Schließlich meldete sich das Lyonel-Feininger-Gymnasium, und wir haben beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds einen Antrag gestellt.“
Und der wurde bewilligt. Unterstützung gab es zudem vom Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch Tandem und der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt.
Bei ihrem Aufenthalt in Prag sind die Hallenser Schüler mit Altersgenossen vom Gymnasium Na Zatlance zusammengetroffen. Die werden sich im September in die Saalestadt aufmachen. Barbora, eine der tschechischen Schülerinnen, freut sich schon darauf:
„Ich denke, dass ich dort einige Dinge von der anderen Seite betrachten kann. Und ich freue mich darauf, eine neue Kultur kennenzulernen.“
Zeitzeugengespräch und Besuch von Gedenkstätten
Mit dem Thema des Austauschprojektes setzten sich die Teilnehmer bei ihrer Begegnung in Prag vielfältig auseinander. So besuchten sie etwa das ehemalige Gestapo-Hauptquartier unweit des Hauptbahnhofs. Außerdem nahmen sie an einem Zeitzeugengespräch mit Jiří Pitín teil. Das Massaker von Lidice hat er als Säugling überlebt, seine Familie wurde ermordet.
Auf diese Art und Weise von den Gräueltaten der Nationalsozialisten zu erfahren, war für viele der Schüler aus Deutschland ein Novum. Von Lidice und Heydrich hatten sie vor dem Austausch noch nicht wirklich gehört. So sagt etwa Alma:
„Ich glaube, Reinhard Heydrich haben wir einmal kurz erwähnt. Mir war aber nicht bewusst, dass er aus Halle kam. Von Lidice hatte ich noch nie gehört.“
Ähnlich war das für Tabea:
„Mir war das auch alles neu. Ich habe mir im Vorfeld erst einmal ein Video angeguckt. Denn ich dachte mir, ich muss vorher zumindest ein bisschen über die Geschichte lernen und kann nicht einfach so hierherkommen.“
Die tschechischen Schüler hingegen seien bereits vor Beginn des Austausches über Lidice und Heydrich im Bilde gewesen, wie etwa Aneta sagt:
„Wir kennen diese Begriffe natürlich, vor allem aus der Grundschule, wo wir zum ersten Mal davon gehört haben. Im Laufe der Jahre haben sich unsere Kenntnisse darüber dann immer weiter entwickelt – durch den Unterricht in der Mittelschule, die Besuche in Museen oder das Lesen von Literatur.“
Dass die deutschen Schüler noch nie von Lidice gehört haben, hängt zum einen damit zusammen, dass der Nationalsozialismus bei ihnen in der elften Klasse bisher noch kein Thema im Geschichtsunterricht war. Aber selbst wenn die NS-Zeit durchgenommen wird, heißt das noch nicht zwingend, dass die Schüler von dem Massaker erfahren. Denn die jeweilige Lehrkraft kann individuelle Schwerpunkte setzen.
Virtuelle Zeitreise
Um die Teilnehmer des Projekts auf den Austausch vorzubereiten, wurden sie deshalb von ihren Lehrern in das Thema eingeführt. Zudem hat Miloslav Man die Gruppen in Prag und Halle im Vorfeld besucht. Er koordiniert das Projekt Pragkontakt, das deutsch-tschechische Schülerbegegnungen und Klassenfahrten organisiert:
„Wir haben für die Teilnehmer Vorbereitungsworkshops veranstaltet und sie darin mit dem Thema bekanntgemacht und darauf eingestimmt.“
Und obwohl Man bereits unzählige Schüleraustausche organisiert hat, sei das aktuelle Programm auch ein wenig besonders, wie er sagt:
„Es geht um ein komplexes, historisches Thema, das wir mit neuen Inhalten füllen. Wir schauen uns nämlich an, wie man neue Medien bei der Vermittlung der Geschichte nutzen kann.“
„Virtuelle Zeitreisen – Neue Wege der Erinnerungskultur“ heißt das Projekt. Konkret verwenden die Schüler etwa Spiele – so etwa den Titel „Attentat 1942“ des Prager Entwicklers Charles Games. Darin werden die nationalsozialistische Besatzung der Tschechoslowakei und das Attentat auf Heydrich thematisiert – etwa durch die Aussagen von Zeitzeugen. Norbert Böhnke begrüßt die Arbeit mit dem Spiel:
„Man geht in der Zeit zurück, und es gibt verschiedene Optionen des Ausgangs. Die Schüler schreiten also nicht auf dem vorgetretenen historischen Pfad, sondern haben während des Spiels die Möglichkeit, für sich selbst als Botschafter aus der Zukunft andere Entscheidungen zu treffen.“
Ein Mahnmal für Halle?
Die Verwendung des Computerspiels dient aber nicht nur dem Wissenserwerb. So sollen die Schüler ihre Erfahrungen mit dem Spiel auch nach Halle weitertragen. Konkret besteht eine Kooperation mit dem Kunstmuseum Moritzburg und der Stiftung Händelhaus. Aufgabe der Schüler ist es, sich Gedanken zu machen, ob nicht auch dort Computerspiele zum Leben einzelner historischer Personen erstellt werden könnten… Böhnke erläutert:
„Diese Empfehlungen der Schülerinnen und Schüler werden dann der Öffentlichkeit präsentiert. Beide Institutionen sind sehr interessiert und gespannt darauf, was die Schüler im September in Halle erzählen werden.“
Zudem sollen mithilfe der Projekttagebücher die Erkenntnisse der Jugendlichen an die Stadtöffentlichkeit weitergegeben werden. Derartiges projektorientiertes Arbeiten kommt bei dem Austausch derweil nicht zum ersten Mal zum Einsatz. So haben die Gymnasialschüler des vergangenen Jahrgangs einen Beitrag für das freie Hallenser Radio Corax erstellt.
2022, im ersten Jahr des Austauschs, entwarfen die Teilnehmenden aus Halle zudem ein Denkmal, dass an die „Heydrichiáda“ erinnern könnte, also an die Verbrechen und Säuberungsmaßnahmen Heydrichs und die Vergeltungsschläge der Nazis nach seiner Ermordung. Aber wird so ein Mahnmal auch einmal erbaut werden? Norbert Böhnke sagt dazu:
„Wir hatten einen Vertrag mit den Schülerinnen und Schülern. Darin war festgelegt, dass wir einen Entwurf erstellen und ihn der halleschen Öffentlichkeit präsentieren. Und natürlich tauchten dann Fragen auf, wie es nun weitergeht. Drei ausgewählte Denkmalentwürfe stehen in der jetzigen Ausstellung des Stadtmuseums, so dass die Diskussion weitergehen kann. Ob es aber zu einer Umsetzung kommt und man in Halle mit seinen 230.000 Einwohnern verstärkt an das Verbrechen von Lidice erinnert, steht in den Sternen und liegt außerdem in den Händen der Bürgerinnen und Bürger.“
Aber auch ohne ein Denkmal bleiben die Gräueltaten der Nationalsozialisten durch das Schülerprojekt ein Thema in Halle. Dass der Austausch im kommenden Jahr fortgesetzt wird, davon ist Norbert Böhnke überzeugt. Und er hofft auch, dass sich dem Projekt in Zukunft noch weitere Schulen anschließen.
Gedenkfeier in Lidice
Der jüngste Aufenthalt der Hallenser in Tschechien fand am Samstag seinen Abschluss. So nahmen die Schüler an der offiziellen Gedenkfeier zur Vernichtung des Dorfes Lidice teil. Unterstützung bekamen sie dabei auch von Egbert Geier (SPD), der die Veranstaltung als erster Oberbürgermeister Halles besuchte. Und auch die Projektteilnehmer vom Gymnasium Na Zatlance waren in Lidice dabei. Unter ihnen war auch Štěpán, der den bisherigen Austausch wie folgt bewertet:
„Wir beschäftigen uns hier mit sehr ersten Themen und traumatischen Ereignissen unserer Geschichte. Aber wir haben dabei auch Spaß und können neue Leute kennenlernen. Und das ist super.“