„Nichts retuschiert“ – Ausstellung des Foto-Rebellen Ivan Kyncl in Prag
Nach 1968 bemühten sich die kommunistischen Funktionäre in der Tschechoslowakei unter anderem auch zu kontrollieren, wie das Leben der Bewohner auf Fotografien dokumentiert wurde. Trotz allen Bemühungen gelang es ihnen jedoch nicht, das Schaffen aller Fotografen zu überwachen. So entstanden zahlreiche Aufnahmen, die in oppositionellen Künstlerkreisen zirkulierten. Der Fotograf und Dissident Ivan Kyncl (1953-2004), der die Charta 77 unterzeichnete, gehörte zu den Chronisten der damaligen Zeit. Seine Fotos zeigen die Bespitzelung der Regimekritiker, aber auch das Leben der Menschen am Rande der Gesellschaft.
Frau Schattenberg, die jetzige Ivan-Kyncl-Ausstellung wurde in Zusammenarbeit mit Ihrem Institut zusammengestellt. Gab es vorher eine solche Ausstellung auch schon in Deutschland?
„Die Ausstellung ist schon in Bremen gezeigt worden, aber auch zum ersten Mal in dieser Größe und Breite.“
Der Nachlass von Ivan Kyncl wird in Ihrer Forschungsstelle aufbewahrt. Wie kam es dazu?
„Wir haben ein großes Archiv mit fast 600 Nachlässen. Sehr viele Nachlässe stammen aus der ehemaligen Sowjetunion, wir haben unter anderem Dokumente von Bukowski, von Solschenizyn und von Sacharow. Es handelt sich um ein Archiv von Dissidenten aus der ehemaligen Sowjetunion, aus der Tschechoslowakei und aus Polen. Das war ein wichtiger Anlass für die Witwe von Ivan Kyncl zu sagen, sie hätte gerne die Dokumente ihres Mannes sozusagen in dieser Umgebung. Dazu kommt: Unser Archiv ist 1982 gegründet worden, und damals hat schon mein Vorgänger erste Bilder von Kyncl angekauft. Später wurden nach und nach weitere Bilder erworben, so dass wir schon eine ganze Menge von ihm zu einer Zeit hatten, als das in Tschechien noch gar nicht gesammelt werden konnte, weil es hier einfach verboten war. Wir hatten also einen großen Bestand, und die Witwe wollte gerne, dass der Bestand zusammenbleibt. So ist der Nachlass nach Bremen gekommen und wird bei uns im Archiv verwahrt.“Frau Hamersky, was war der Anlass für die Ausstellung aus dem Werk von Ivan Kyncl?
„Der Anlass war, dass die Forschungsstelle Osteuropa in Bremen einen Teilnachlass von Ivan Kyncls Witwe in London erwerben konnte.“Die Ausstellung beginnt mit den Erste-Mai-Kundgebungen aus der kommunistischen Zeit. Sie zeigt aber auch Fotos von Menschen, die am Rande der Gesellschaft standen…
„Ivan Kyncl ist in diesem Land als Fotograf der Charta 77 bekannt. Für uns war für die Konzeption der Ausstellung wichtig, das ganze Spektrum seines Werkes vorzustellen. Darum sind für uns diese Erste-Mai-Kundgebungen von Bedeutung. Es gibt natürlich sehr viele Fotografien der Erste-Mai-Paraden, aber bemerkbar ist Kyncls ironischer Blick auf die erzwungenen Kundgebungen. Der zweite Teil aus der sozusagen ‚normalisierten‘ Gesellschaft zeigt Ivan Kyncls Blick auf marginalisierte gesellschaftliche Gruppierungen. Das waren zum einen alte Menschen, die in Altersheime abgeschoben wurden, wo sich niemand um sie kümmerte. Zum anderen waren es die Roma, die auch eine Gruppierung waren, die im Sozialismus sehr an den Rand der Gesellschaft gedrängt war. Den Fotografen haben vor allem jene Roma-Kinder interessiert, die im selben Stadtviertel lebten, wo er sein Atelier hatte – auf der Prager Kleinseite. Die Roma-Kinder haben für ihn auf der Straße posiert. Sie sind sehr frech, witzig und selbstbewusst, um dem Regime die Stirn zu bieten. Das drücken die Fotografien aus.“
In der Ausstellung werden zudem viele Fotos aus der Dissidentenbewegung gezeigt. Wie gelang es dem Fotografen, einige dieser Bilder zu machen, auf denen die Bespitzelung der Regimekritiker dokumentiert wird?
„Das ist das Besondere an Ivan Kyncls Werk: Es ist nicht nur interessant, was er in seinen Fotografien zeigt, sondern auch wie er es gemacht hat und wie diese Bilder entstanden sind. Man kann sagen: Wenn Ivan Kyncl beispielsweise die Observation von Dissident František Kriegel dokumentiert, vollführt er damit eine Gegenobservation.“Dasselbe gilt für die Fotografie von Dissident Ladislav Lis, der im Café Slavia von einem Stasiagenten beschattet wird…
„Um diese Bilder auch heute lesen zu können, muss man ein bisschen Hintergrundwissen haben. Leute, die mit Ivan Kyncl befreundet waren, oder Familienangehörige haben erzählt, wie dieses Foto zu verstehen ist: Ladislav Lis sitzt im Café Slavia, zeigt mit dem Daumen nach hinten auf den am Tisch am hinteren Ende des Raums sitzenden Agenten, der gerade an diesem Tag auf ihn angesetzt war. Das sind kleine, winzige Gesten. Es musste auch unauffällig geschehen, denn Ivan Kyncl stand im Café und fotografierte. Wenn er direkt die Kamera auf den Agenten gehalten hätte, wäre das Ganze aufgeflogen, aber so war das relativ unauffällig, und es ist gelungen.“
Bekannt war auch Ivan Kyncls Vater, der Rundfunkreporter Karel Kyncl. Seinetwegen durfte Ivan nicht studieren und wurde vom Regime schikaniert, genauso wie die ganze Familie. Wo hat er fotografieren gelernt? Er war Fotograf, aber er ja konnte nicht an der Akademie studieren…
„Ganz genau. Ivan Kyncl hat eine Ausbildung als Laborfotograf gemacht. Seine große Sehnsucht war aber tatsächlich an der berühmten, renommierten FAMU, der Kunstakademie in Prag, Fotografie zu studieren. Er hat sich mehrfach bei den Aufnahmeprüfungen beworben, hat diese mitgemacht und ist jedes Mal gescheitert. Natürlich nicht aus künstlerischen Gründen. Ihm wurde tatsächlich bescheinigt, dass er natürlich Talent habe, aber aus politischen Gründen sei es nicht möglich, ihn aufzunehmen. Er hat dann am ‚Lidová konzervatoř‘ (Volkskonservatorium, Anm. d. Red.) Kurse besucht. Das war möglich. Es waren Abendkurse, teilweise von renommierten Fotografen betreut. Auf diese Weise hat er wirklich die Chance gehabt, von den Dozenten, die an der FAMU gelehrt haben, unterrichtet zu werden. Relativ spät hat erhielt er zudem über bestimmte Kontakten, die seine Eltern hatten, die Möglichkeit, als sogenannter ‚mimořádný student‘, also als außergewöhnlicher Studierender, einige der Kurse an der FAMU zu besuchen. Das lief aber nur ein halbes Jahr lang. Dann hatte er einen Skiunfall, bei dem er sich schwer an der Wirbelsäule verletzte. Er lag dann monatelang im Krankenhaus und ist anschließend nicht mehr an die FAMU zurückgegangen. Er war eigentlich mehr ein Autodidakt, wenn man so will.“Kommen wir auf die Fotos aus der Dissidentenbewegung zurück. Dort ist auch eine sehr beeindruckende Aufnahme von einem der Dissidenten, wie dieser in Handschellen in der berüchtigten Bartolomějská-Straße in Prag von Polizisten abgeführt wird. Wie war das überhaupt möglich?
„Auch das ist wieder Kyncl, wie er leibt und lebt. Immer fiel ihm etwas ein. Er hatte wohl Spaß daran, sich Dinge auszudenken, wie man Fotografien auch unter solchen Umständen abtrotzen und abringen konnte, die eigentlich das Fotografieren unmöglich machten. Als Pavel Büchler in Handschellen, begleitet von zwei Polizisten zu seinem Prozess geführt wird – das muss man sich einmal vorstellen: Es kommen ihm frontal auf dem gleichen Bürgersteig zwei Polizisten entgegen –, möchte Ivan Kyncl diese Szene festhalten. Das gelingt ihm damals auch wieder mit einem kleinen Trick: Er ist nicht alleine auf dem Bürgersteig, sondern mit einer Begleiterin. Er versteckt sich etwas hinter ihrer Schulter, zückt die Kamera und schießt schnell dieses Foto. Man sieht auf der Aufnahme noch ein Stück des Mantels seiner Begleiterin. Und das ist zum Beispiel auch typisch für Ivan Kyncl: Er hat Bilder nicht retuschiert. Ihm war wichtig, dass dieses Stück Mantel tatsächlich auf dem Bild zu sehen war. Es war Teil des fotografischen Konzepts, zu zeigen: Das sind die Umstände seien, unter denen ich fotografiere; ich retuschiere das nicht; ich will sichtbar machen, aus welcher Situation heraus die Fotografie entstanden ist. Damit unterscheidet er sich absolut von anderen Fotografen, die im Dissens tätig waren.“Er wurde dann auch mehrmals inhaftiert, verhört und letztlich praktisch gezwungen, ins Exil nach Großbritannien zu gehen. Wie waren dort seine Anfänge? Erst später ist er zu einem renommierten Theaterfotografen geworden…
„Ich habe erfahren, dass die Anfänge sehr schwierig für ihn waren. Aus zwei Gründen. Erstens: Ivan Kyncl kannte niemanden in London. Er kam und war mehr oder weniger auf sich allein gestellt. Und die Situation war dadurch noch schwieriger für ihn, dass er kein Englisch konnte. Die fehlenden Sprachkenntnisse und die mangelnden Verbindungen – das waren sehr schwierige Anfänge für ihn. Er wandte sich zunächst einmal an die Exil-Presseagentur Palach-Press. Diese Leute kannte er natürlich schon aus der Zeit in Prag, weil er seine Fotografien dorthin geschickt hat. Über diese Kontakte konnte er sich zunächst den einen oder anderen Auftrag als Fotograf verschaffen. Letztlich suchte er nach einer Nische, wo es nicht so wichtig war, was er sprach, woher er kam. Im Bereich der Theaterfotografie gab es damals noch mehr Möglichkeiten. Als Reportage-Fotograf war es weitaus schwieriger. Er war auch jahrelang staatenlos, er hatte keinen Reisepass. Deswegen war es unmöglich für ihn – was er gerne gemacht hätte –, Kriegsreporter zu sein. Die englische Staatsbürgerschaft bekam er erst 15 Jahre später. Er musste sich also eine andere Möglichkeit suchen, um sich als Fotograf zu etablieren. Dies gelang tatsächlich mit dem Theater, das damals auch in ästhetischer Hinsicht noch sehr konservativ war. Da wurden einfach 08-15-Porträts der Schauspielerinnen angefertigt. Ivan Kyncl hat aber etwas ganz Neues probiert: Er wollte auf der Bühne Action zeigen. Er fasste die Inszenierungen einfach so auf, als ob sie ein Ereignis im realen Leben gewesen seien. Damit bekamen seine Fotografien eine Dynamik, die bis dahin in der Theaterfotografie überhaupt nicht vorkam, zumindest nicht in Großbritannien.“Die Ausstellung „Ivan Kyncl – Rebell mit der Kamera“ ist im Nationaldenkmal auf dem Vítkov-Hügel bis 20. Juli zu sehen. Das Nationaldenkmal ist mittwochs bis sonntags von 10 bis 18 Uhr geöffnet.