Aus dem Klassenzimmer in die Europäische Union - Schüler des Gymnasiums Cheb/Eger führen EU-Beitrittsverhandlungen
Tschechische Schulen gelten in der Regel als wenig innovativ, was Unterrichtsform und Lehrmethoden anbelangt. Beides ist hier vergleichsweise verschult und eher auf das passive Aufnehmen von Stoff ausgerichtet als auf die aktive Beteiligung der Schüler.Eine ganz andere Form des Unterrichts konnte man in den vergangenen Wochen am Gymnasium im westböhmischen Cheb/Eger beobachten. Kreativität und Einsatzbereitschaft, Verhandlungsgeschick und aktive Deutschkenntnisse waren hier gefordert, hochpolitisch ging es her und dabei zugleich spielerisch...Mehr dazu erfahren Sie im heutigen Themenkaleidoskop, zu dem Sie aus dem Prager Studio Silja Schultheis begrüßt.
Während in Tschechien in den letzten Wochen der Wahlkampf auf Hochtouren lief und die Einstellung zu "Europa" zum wichtigen Unterscheidungsmerkmal zwischen den einzelnen Parteien wurde, führten 16 Schüler der elften Klasse des Gymnasiums Cheb Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. "Meet Europe" - "Europa treffen" - so das Motto des von der Friedrich-Ebert-Stiftung konzipierten Planspiels, in dem Schüler aus verschiedenen Ländern per Internetchat die Erweiterung der Europäischen Union simulierten. Höhepunkt des Spiels waren nach dreiwöchiger Vorbereitung und einer ebenso langen Online-Verhandlungsphase die abschließenden Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union, die die Schüler in Brüssel auf Deutsch führen mussten. Jan Eichler, Schüler der 11. Klasse am Gymnasium Cheb:
"Dort waren mehrere Schulen aus Deutschland, aus Polen und eine Schule aus Tschechien - das waren wir. Die Schulen aus Polen haben den Ministerrat, die Kommission und das EU-Parlament gespielt. Und wir mussten mit diesen drei Institutionen verhandeln."
Eine Konzeption, die bei den Schülern sehr gut ankam. Andrea Hielscher, Deutsch-Lehrerin am Gymnasium Cheb und eine der das Spiel betreuenden Lehrkräfte:
"Für die Schüler war es ein Abenteuer, so etwas hatten sie noch nie gemacht, ein Projekt in so großem Rahmen. Und die Fahrt nach Brüssel hat natürlich gelockt. Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist mit vier Leuten hier angereist, hat ein Europa-Quiz gemacht und die Schüler auf das Spiel vorbereitet. Auch diese Veranstaltung ist sehr gut angekommen, und deswegen waren die Schüler sehr motiviert."
Besonders die abschließende Verhandlungsphase in Brüssel und das persönliche Zusammentreffen mit namhaften Politikern wie beispielsweise dem tschechischen Außenminister Jan Kavan bewerteten Jitka Modlikova, Kristina Strachova, Dana Turcinkova, Misa Loudova, Zbynek Tluchor, Josef Rotbauer, Jan Eichler durchweg sehr positiv:
"In Brüssel war das sehr interessant, wir haben die Politiker in Wirklichkeit gesehen, wie die arbeiten, wie das dort alles funktioniert. Und auch als wir verhandelt haben, haben wir das wirklich erlebt, diese Situation."
"Ich persönlich habe sehr wenig über die Europäische Union gewusst. Es war in Brüssel sehr gut, hat mir sehr gefallen."
"Ich weiß jetzt auch mehr über die Europäische Union, wie sie funktioniert, und auch über die tschechische Politik. Früher habe ich mich für Politik überhaupt nicht interessiert, und jetzt musste ich viele neue Informationen suchen."
"Ja, ich meine, das war sehr interessant, ich habe viel über die EU kennen gelernt. Jetzt weiß ich, welche Kapitel wir noch nicht abgeschlossen haben und was wir noch tun müssen."
Äußerungen, in denen Andrea Hielscher eine spürbare Veränderung der Schüler erkennt, die sich in der Mehrzahl vor dem Spiel nahezu überhaupt nicht für Politik interessiert hatten:
"Die Schüler hier sind zu 80% völlig politisch desinteressiert. Sie für die Politik zu begeistern, ist deshalb umso schwieriger, weil sich auf der Prager Szene auch nicht gerade beispielhafte Dinge abspielen."
"Dieses europäische Gemeinschaftsspiel hat dazu beigetragen, dass sie gezwungen wurden, sich damit zu beschäftigen. Die Fahrt nach Brüssel hat natürlich gelockt, deswegen haben sie sich in die Vorbereitungen gestürzt. Das Interesse für die Politik ist größer geworden, die Kompetenzen sind größer geworden, und ich hoffe, dass das auch auf die künftige Arbeit Einfluss haben wird."
Und wie sind die Beitritts-Verhandlungen in Brüssel letztlich ausgegangen? Jan Eichler findet das Verhandlungsergebnis durchaus akzeptabel:
"Ich persönlich bin damit zufrieden, ich denke, alles was wir machen konnten, haben wir gemacht."
Der tschechische EU-Beitritt ist besiegelt, die Schüler des Gymnasiums Cheb haben erfolgreich verhandelt - und sind der Auffassung, dass sie sich dabei durchaus an der Realität orientiert haben - auch in den kritischen Fragen wie dem umstrittenen Atomkraftwerk Temelin und den Benes-Dekreten. In beiden Fällen sind die Schüler bei ihren Verhandlungen zu einem Kompromiss gekommen: Temelin wird stillgelegt, allerdings erst nach mehrjähriger Übergangszeit und den Kompromiss hinsichtlich der Dekrete bringt eine der Spielteilnehmerinnen, Dana Turcinkova auf die folgende Formel:
"Die Benes-Dekrete abschaffen, aber kein Geld den Deutschen geben."
Keine Dekrete, aber auch keine Eigentumsansprüche der Deutschen - Kristina Strachova ist vorsichtig optimistisch, dass diese Lösung gar nicht so weit entfernt ist von dem Ausgang der "echten" Beitrittsgesprächen:
"Ja, ich weiß nicht, wie es dann läuft mit den Benes-Dekreten, wenn sie wirklich verhandeln. Aber ich denke, sie werden zu einem Kompromiss kommen. Und ich denke, der Kompromiss wird ähnlich wie bei uns sein."
Jan Eichler ist etwas skeptischer und gibt zu bedenken:
"Ich denke, unsere Politiker haben etwas Angst davor, die Benes-Dekrete abzuschaffen, ich weiß nicht, warum. Ich denke, die nationale Frage ist nicht so wichtig für mich persönlich, und für die Tschechische Republik, denke ich, auch nicht."
Von EU-Skepsis, wie sie im tschechischen Wahlkampf immer wieder ans Licht kam, ist bei den Schülern der Elften Klasse am Gymnasium Cheb nahezu nichts zu spüren. Auch diejenigen, die mangels ausreichender finanzieller Mittel nicht mit nach Brüssel durften, blicken dem tschechischen EU-Beitritt durchweg mit positiven Erwartungen entgegen - Lucie Jaskova, Tomas Matejicek, Bela Janska, Alena Voriskova, Jiri Necesanek, Maria Kubickova und Dana Peukerova. Dana Peukerova verbindet mit der EU-Erweiterung noch eine weitreichendere Hoffnung:
"Wenn die Menschen zusammen sprechen und nur auf der politischen Ebene streiten, dann gibt es vielleicht keinen Krieg mehr."
Und mit diesem Wunsch von Dana Peukerova vom Gymnasium Cheb, verehrte Hörerinnen und Hörer, verabschiede ich mich für heute von Ihnen und bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. Am Mikrophon war Silja Schultheis.