Joachim Barrande
Viele Prager wohnen im Stadtviertel Barrandov, fahren über die neueste Prager Moldau-Brücke - die Barrandov-Brücke - oder bewundern den am linken Moldauufer emporragenden Barrande-Felsen. Nur wenige jedoch wissen etwas über den Mann, nach dem das Stadtviertel Barandov benannt wurde. Dies können Sie im folgenden Spaziergang durch Prag von Martina Schneibergova erfahren.
Joachim Barrande war ein herausragender französischer Naturwissenschaftler - ein Paläontologe, der vor allem einer der großen Pioniere bei der Erforschung von Fossilien war - also von Tieren und Pflanzen, die vor 520-380 Millionen Jahren in den paleozoischen Meeren auf dem Gebiet des heutigen Mittelböhmens lebten und gediehen. In den folgenden Minuten möchte ich Sie zu jenen Lokalitäten in und um Prag führen, die mit dem Namen Joachim Barrande verbunden sind.
Joachim Barrandes Persönlichkeit und Werk ist das Resultat vieler Faktoren, die mit dem wirtschaftlichen, kulturellen und politischen Leben Europas im Verlauf des 19. Jahrhunderts zusammenhängen. Der am 11. August 1799 im französischen Saugues (Haute Loire) geborene Barrande war offensichtlich außerordentlich begabt - sowohl auf dem Feld der Naturwissenschaften und in der Kunst des Zeichnens als auch in Punkto Sprachen. Er studierte in Paris zu einer Zeit, als dort hervorragende Naturwissenschaftler wirkten.
In der Studienzeit war er vor allem von Cuvier und Lamarc fasziniert. Diese erweckten sein Interesse für Natur und Paläontologie. Als er mit der emigrierenden französischen Königsfamilie nach Schottland kam, erlebte er in den Jahren 1831-32 die Veröffentlichung der Arbeiten des Begründers der britischen Paläontologie, Sir Murchison. Auf dem Hof des französischen Königs Charles X. wirkte Barrande als Privatlehrer des königlichen Enkelsohns - Henri von Chambord. Durch Zufall kam Joachim Barrande 1832 mit dem königlichen Hof nach Prag. Im Unterschied zum König sollte Barrande Prag künftig nicht mehr für längere Zeit verlassen. Seine Freundschaft mit Henri von Chambord wurde jedoch gefestigt und spielte eine wichtige Rolle auch im Barrandes weiterer Tätigkeit.
In Prag lernte der 33-jährige Barrande bald die führenden tschechischen Wissenschaftler im Umkreis des damaligen Museums des Königreichs Böhmens kennen. Nennen wir z. B. Caspar von Sternberg, den Begründer des späteren Prager Nationalmuseums, den Kurator des Museums, Maxmilian Zipp, oder den namhaften tschechischen Historiker Frantisek Palacky. Durch Sternbergs Vermittlung sollte Barrande vorübergehend zu seinem ursprünglichen Ingenieurberuf zurückkehren. Er sollte die Pläne für die geplante Verlängerung der Pferdebahn aus Prag nach Pilsen begutachten bzw. überarbeiten. Damit war Barrandes Schicksal besiegelt. Während der Vorbereitungsarbeiten bei Skryje nämlich entdeckte er fossile Reste der Trilobiten. Diese Fossilien waren viel besser erhalten als diejenigen, die er aus Frankreich oder aus Großbritannien kannte. Barrande beschloss, dass seine Zukunft nicht aus Entwürfen für Pferdebahnen oder Brücken bestehen sollte. Er fasste den Entschluss, sich gründlich mit der ausgestorbenen böhmischen Fauna zu beschäftigen. Zufälligerweise kam es kurz danach zur Herausgabe des Buches über das Silur-System von Sir Murchison. Joachim Barrande verfasste ein ähnliches Werk - jedoch in einem viel größeren Umfang. In 22 Bänden beschrieb er das Silur-System in Böhmen.
Kommen wir jedoch auf die Prager Gesellschaft zurück, in der sich Barrande bewegte. Er war offensichtlich häufig im Sternberg-Palais zu Gast. Zweifelsohne war er eine nicht zu übersehende Figur der Prager Kleinseite. Man vermutet, dass er mit seinem Aussehen den Schriftsteller Jan Neruda zu seiner Erzählung "Der Wassermann" inspiriert hat. Der Schriftsteller kannte ihn sehr gut, da sich seine Mutter - Barbora Nerudova - um Barrandes Haushalt kümmerte. Zuerst wohnte Barrande im Haus "Zu den drei Sternen", später in dem damaligen Neubau "Zur Kettenbrücke" - einem Empirehaus in der heutigen Vitezna-Gasse.
Frau Nerudova lernte Barrande angeblich während seiner Arbeit an der Pferdebahn in Skryje kennen. Sie besorgte dem Wissenschaftler eine 5-Zimmer-Wohnung, das ihm jedoch schon bald nicht mehr genügen sollte, da Barande es bis oben mit wertvollen Fossilien voll stopfte. Dank Nerudas Mutter erlernte Barrande auch die tschechische Sprache. Mit tschechischen Namen bezeichnete er auch die vielen Fossilien. Und dies obwohl von den Geologen festgelegt worden war, dass die Fachbezeichnungen nur aus dem Lateinischen abgeleitet werden sollten.
Joachim Barrande ist für die Experten bis heute eine beachtenswerte Persönlichkeit. Es handelt sich dabei bei weitem nicht nur um eine Art Hochachtung eines einst berühmten Wissenschaftlers. Forscher aus der ganzen Welt kommen nämlich nach Prag, um Barrandes einzigartige Fossilien-Sammlung in Augenschein zu nehmen. Es handelt sich dabei um Einzelstücke, nach denen Barrande mehr als 3.500 neue Arten fossiler Trilobite, Kopffüßler, Muscheln und anderer Tiere bestimmt und benannt hatte.
Für heutige Paläontologen ist es wichtig, dass Barrande die Tiere nicht beschrieben, sondern dass er nach ihnen auch das Alter der Erdschichten bestimmt hat. Seine Funde stammen aus der Zeit vor 520 bis 320 Millionen Jahren, als das Gebiet des heutigen Mittelböhmen noch von einem Meer bedeckt war. In seinem Bemühung, eine vollständige Sammlung zusammenzustellen, tauschte der französische Wissenschaftler seine Fossilien emsig mit denen ausländischer Paläontologen aus. Mit einem amerikanischen Experten tauschte er beispielsweise mehr als 5.000 Fossilien aus.
Vor drei Jahren - anlässlich des 200. Geburtstags von Barrande - wurden einige seiner Tagebücher in Prag ausgestellt, in denen seine geologischen Forschungen samt Lokalnamen und Bemerkungen über gefundene Fossilien beschrieben sind. Auch für heutige Paläontologen waren dies wertvolle Informationen. Dank dieser Notizen gelang es, bereits einige Lokalitäten zu finden, wo Barrande seine Forschungen durchgeführt hatte.
Joachim Barrande starb im Jahre 1883 im Alter von 84 Jahren. Am 14. Juni 1884 wurde zu Ehren des französischen Wissenschaftlers an einem der über dem linken Moldauufer emporragenden Felsen feierlich eine Gedenktafel enthüllt. Am 2. Februar 1928 wurde ein Prager Stadtviertel nach dem namhaften Paläontologen "Barrandov" benannt. Die Geologen ehrten das Andenken Joachim Barrandes auf ihre Weise: Sie nannten das Gebiet der proterozoischen Sedimente in Mittelböhmen fürderhin "Barrandien".
Damit ist der heutige Spaziergang auf den Spuren des namhaften französischen Paläontologen Joachim Barrande zu Ende.