21. August 1968 in Pilsen: Erinnerungen eines Zeitzeugen

August 1968 in Pilsen (Foto: CTK)

Stichwort "Okkupation der Tschechoslowakei vor 35 Jahren". Ihre Spuren sind bis heute landesweit zu finden, haben doch die Einheiten des ehemaligen Warschauer Paktes, namentlich russische Truppen, das Land erst viel später, erst vor über 10 Jahren verlassen. In mancher Stadt findet man noch Löcher in Hausfassaden oder auch an Denkmalobjekten. Im Prager Stadtzentrum z.B. sind unzählige Spuren von Schüssen sowjetischer Maschinengewehre an der Fassade des Nationalmuseums nicht zu übersehen. Deutliche Spuren der Okkupation trägt z.B. die Stadt Milovice in der damaligen Militärzone, wo über 20 Jahre lang mehrere Zehntausend russische Soldaten, zum Teil auch mit Familie, lebten. Die Beseitigung der hinterlassenen ökologischen Schäden wird noch lange dauern. Was wohl nicht mehr zu beseitigen ist, sind die Spuren, sprich Narben an der Seele vieler Menschen, die den 21. August 1968 erlebt und seine Konsequenzen intensiv zu spüren bekommen haben. Zu diesen Menschen gehört ohne Zweifel Milan Kazda, der die Besetzung der Tschechoslowakei in Pilsen erlebt hat. Die Aussage dieses Zeitzeugen und Filmegisseurs können Sie jetzt in der nachfolgenden Sendereihe Begegnungen hören:

August 1968 in Pilsen  (Foto: CTK)
"Dipl.Ing. Milan Kazda, geboren am 6.7.1931 in Horazdovice, Kreis Klatovy, wohnhaft in Pilsen, ist verdächtig der Straftat der Schändung des Staates der internationalen sozialistischen Staatengemeinschaft und deren Vertreter nach Paragraph 104 des Strafgesetzbuches, denn durch Ermittlungen wurde nachgewiesen, dass er aufgrund einer prinzipiellen Ablehnung und im Bestreben, diese auf eine aktive Weise zu zeigen, gegen die Ankunft der verbündeten Armeen auf dem tschechoslowakischen Gebiet im August 1968 zwei emotionsgeladene Filmstreifen geschaffen und dann bei verschiedenen Gelegenheiten auch im Jahr 1969 in der Öffentlichkeit gezeigt hatte - einen mit dem Titel ´Normalisierung´ und den anderen mit dem Titel ´Ballade eines Knirpses´, in dem er auf eine beleidigende Weise die Verbundenheit mit der Sowjetunion und deren Vertretern angreift sowie jene zu den Streitkräften der UdSSR, die sich derzeit auf tschechoslowakischem Gebiet befinden mit dem Ziel, den sozialistischen Aufbau der Republik zu gewährleisten."

Punkt! Zitatende. Diesen superlangen Satz gab es in der gegen Milan Kazda, den Regisseur und Chef eines Filmstudios in Pilsen, von der Staatssicherheit (StB) erhobenen Strafanzeige vom 19.12.1969 zu lesen. Sie galt als einschneidender Wendepunkt im Leben des bereits seit den 50er Jahren tätigen Enfant terribles des tschechischen Amateurfilms, dem sich Kazda auf hohem professionellem Niveau widmete. Enfant terrible im besten Sinne des Wortes, denn Kazda, von der Ausbildung her Landvermesser und erst später Absolvent der Filmakademie, reflektierte gern den sozialistischen Alltag mittels einer Filmsatire. Dafür erntete er im Laufe der Zeit eine ganze Reihe von Preisen auf verschiedenen Festivals, darunter auch im Ausland. Nun aber kam der schicksalhafte 21. August, und sowjetische Panzer besetzten auch Pilsen. Kazda erinnert sich:

"Zunächst kam der Anruf meines Freundes: Milan, Sowjetpanzer sind in Pilsen. Es ist Krieg, sagte er. In dem Moment fiel mir ein, dass meine Generation schon wieder etwas Schreckliches erleben wird. Es war ja noch nicht lange her, seitdem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Daher war es für uns nicht leicht, das zu verkraften."

Aus dem Rundfunk habe man erfahren, dass es sich um eine Okkupation unseres Landes handele und dass die Tschechoslowakische Armee sich nicht gegen die Sowjets wehrte. In diesem Moment habe er sich entschieden:

"In dem Moment war mir als einem Filmemacher klar, dass es - ebenso wie ein Arzt im Falle eines Verletzten alles für die Rettung seines Lebens tun muss - meine Pflicht war, nach der Kamera zu greifen, auf die Straße zu gehen und die Realität so, wie sie eben ist, im Bild festzuhalten."

Jede 30-Meter-Filmspule - das waren damals etwa zweieinhalb Minuten - habe man sofort mittels vertrauter Personen in einem geheimen Versteck deponiert, erzählt Kazda. Man befürchtete, dass die Russen ihnen entweder die Kamera oder den Film hätten entreißen können. Unter den Personen, die am Abtransport des Filmmaterials in das sichere Versteck beteiligt waren, befand sich auch eine Frau, die später paradoxerweise die Geheimpolizei StB auf die Existenz dieses delikaten Filmmaterials aufmerksam machte. Doch in jenen Tagen um den 21. August 1968 hätten die Menschen noch fest zusammengehalten, sagt der Regisseur in offensichtlicher Anspielung daran, dass der Zusammenhalt der Tschechen auch in diesem Falle nicht von einer langen Dauer war. Das Filmen in den ersten Stunden der Okkupation war natürlich nicht leicht, ja es war sogar gefährlich, wenn man mit der Kamera nahezu unter die rollenden Panzer kroch. Übrigens, frage ich Herrn Kazda, wie haben damals die Leute in Pilsen auf die russischen Panzer reagiert, in einer Stadt, die nicht wie der Großteil des tschechischen Gebietes im 2.Weltkrieg von der sowjetischen, sondern von der US-amerikanischen Armee befreit wurde?

"Wir haben mit den Menschen keine Interviews gemacht. Das war eigentlich nicht nötig, Sie wissen ja, dass mein Film von keinem Kommentar, sondern von expressiver Musik begleitet wird. Die Bilder im Film sind dermaßen aussagekräftig - die Menschen brachten durch ihre Augen und ihre Gesichter zum Ausdruck, was sie dachten. Es gab ganz rührende Momente. Die Leute umlagerten z.B. das Gebäude des Tschechoslowakischen Rundfunks und hielten dort Wachen rund um die Uhr, damit die Rundfunksendungen ausgestrahlt werden konnten, als andere Regionalstudios schon geschlossen waren."

Die Gelegenheit, den im August 68 entstandenen Film zu zeigen, kam erst später. Im Januar 1969 hat sich Jan Palach am eigenen Leib verbrannt, und das war für Kazda der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Jetzt wollte er nicht mehr schweigen. Die emotionale Wirkung dieses Filmdokuments steigerte er durch das wiederholte Einblenden von Bildern mit unbesorgt spielenden und nichts ahnenden Kindern. Deshalb auch der Titel "Ballade eines Knirpses". Am 30. März 1969 wurde der Film zum ersten Mal auf dem Amateurfilmfestival im mährischen Prerov gezeigt. Die Resonanz war riesengroß. Am 11. November desselben Jahres wurde Milan Kazda von der Geheimpolizei verhaftet und anschließend auch verurteilt. Die Richterin schlug eine Freiheitsstrafe vor, doch es gelang, dieses Urteil abzuwenden. Auf Vorschlag des Anwalts von Milan Kazda wurde im Rahmen des Gerichtsverfahrens eine Dokumentation gezeigt, die ein Jahr vor der Okkupation der Tschechoslowakei vom Moskauer Fernsehen in einem einstündigen Programm über den talentierten Künstler ausgestrahlt wurde. Kazda wurde letzten Endes mit einer Bewährungsstrafe auf freien Fuß gesetzt. Die Kamera durfte er aber erst nach 20 Jahren wieder in die Hand nehmen. Nach der Wende 1989!

1990 aus Anlaß des 45. Jahrestages der Befreiung von Pilsen durch US-amerikanische Truppen drehte er als erstes die Dokumentation mit dem Titel "Thank you, boys!"