65 Jahre Münchner Abkommen - Historikertreffen in Prag
Es gibt Momente in der Geschichte, in denen ein Land oder mehrere Länder auf einmal an einem Scheideweg stehen, von wo aus die eingeschlagene Richtung aufgrund der gefassten Entscheidung unaufhaltsam in eine Tragödie führt. So war es auch im September 1938, als das sog. Münchner Abkommen unterzeichnet wurde. Durch die darin verankerte Abtretung der Grenzgebiete der damaligen Tschechoslowakei glaubte man - zumindest in einem Teil Europas - das Dritte Reich und seinen Führer zu besänftigen. Welche Konsequenzen diese Appeasement-Politik hatte, ist notorisch bekannt. Aus Anlass des 65. Jahrestages der Unterzeichnung des Münchner Dokuments kamen vor kurzem zahlreiche Historiker aus verschiedenen europäischen Ländern in Prag zusammen, um über die Ereignisse der damaligen Zeit und deren Zusammenhänge zu konferieren. Mehr dazu erfahren Sie jetzt in der neuen Folge unserer Sendereihe Begegnungen. Am Mikrophon ist Jitka Mladkova:
Die tschechische Historiografie konnte nur ganz kurz in dem Zeitraum des Prager Frühlings von 1968 aufatmen, und danach erst wieder nach dem Wendejahr 1989. Die Konferenz zum Münchner Abkommen galt somit für tschechische Historiker als willkommene Gelegenheit, die tschechoslowakische Tragödie aus unterschiedlichen Blickwinkeln der internationalen Geschichtsforschung zu beleuchten. Neue Erkenntnisse sowie im Laufe der Zeit erlangte neue Positionen führen die Zeitgenossen dazu, bestimmte Ereignisse anders zu sehen bzw. anders zu bewerten, sagte bei der Konferenzeröffnung Prof. Jaroslav Panek von der Prager Karlsuniversität. Er hob die Bedeutung des Historikertreffens u. a. dadurch hervor, indem er darauf verwies, wie mit dem Thema "Münchner Abkommen" in den tschechischen Medien umgegangen wird. Auf dieses Thema Bezug nehmend fragte ich ihn, ob er die Art und Weise der Medialisierung der tschechischen Geschichte in der Vorkriegsperiode als irritierend empfinde. Hierauf sagte er:
"Ich habe mein Einleitungswort durchaus nicht als eine Polemik mit der Vierten Macht im Staate verstanden, das hätte keinen Sinn. Ich wollte vielmehr darauf hinweisen, dass sich da eine Art Meinungsschere öffnet: tschechische bzw. tschechoslowakische Akteure der Münchner Ereignisse werden auf der einen Seite als Opfer des Verrats präsentiert, auf der anderen Seite als absolut unfähige Politiker dargestellt - unfähig vorauszusehen, flexibel zu reagieren und sich mit der entstandenen Situation auseinanderzusetzen. Auf der einen Seite also die Tschechoslowakei dargeboten wie ein Idealland, das nahezu allen Forderungen einer gerechten Minderheitenpolitik entspricht, auf der anderen Seite wie ein Staat, der kontinuierlich alle nicht tschechischen Volksgruppen in der Bevölkerung unterdrückte".
Wenn man dann Urteile formulieren wolle, so Panek, und wenn diese auf realen Kenntnissen basieren sollen und nicht etwa lediglich auf der Sehnsucht zu moralisieren, dann müsste man sich mit dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschungen bekannt machen. Eines der zentralen Themen der Prager Historikerkonferenz war das Thema "Minderheiten" und namentlich die deutsche Minderheit in der Vorkriegs-Tschechoslowakei. Über diese unterhielt ich mich mit Prof. Hans Lemberg von der Universität Marburg:
"Herr Professor Lemberg, in Ihrem Vortrag haben Sie allgemein zum Thema "nationale Minderheiten" gesprochen. Sie haben gesagt, es gab viel Trennendes zwischen den einzelnen Minderheiten einschließlich der deutschen, sogar im Rahmen eines Landes - da denke ich z.B. an Rumänien. Nun frage ich, durch welche Spezifika zeichnete sich die deutsche Minderheit in der ehemaligen Tschechoslowakei aus?"
"Man kann vielleicht sagen, dass es zwei Gruppen von Minderheiten gab, nämlich einmal die sog. Sudetendeutschen in den böhmischen Ländern, und die sog. Karpatendeutschen im ehemaligen Oberungarn, d.h. also in der Slowakei. Die beiden sind nie so richtig zu einer Tschechoslowakei-Deutschenminderheit zusammengewachsen, obwohl sie miteinander von Fall zu Fall mitgearbeitet haben. Was jetzt die größere, die sog. Sudetendeutsche Minderheit anlangt, so war sie auch ihrerseits erst langsam aus verschiedenen Teilen zusammengewachsen. Die Tradition war ja, dass es eine böhmisch-deutsche, eine mährisch-deutsche und in Schlesien auch noch eine vorhandene Bevölkerungsgruppe der Deutschen gab, und erst nach und nach wurde für sie auf dem Umweg über den Begriff Böhmerland, dieser Begriff, der sich erst in den 30er Jahren fest durchsetzte, eine sudetendeutsche Gruppe geschaffen. Was - gemessen an anderen Minderheiten im übrigen Ostmittel- und Südosteuropa vielleicht zu einer Besonderheit macht, ist, dass sie zahlenmäßig sehr stark war - das es also über drei Millionen Menschen gewesen sind, die nun ihrerseits ein Drittel der Staatsbevölkerung ausgemacht haben, insbesondere in der westlichen Staatshälfte. Das ist schon eine quantitative Größe, die sozusagen, marxistisch gesagt, in Qualität umschlagen kann."
"Gab es innerhalb dieser Volksgruppe, also der Sudentendeutschen, auch etwas Trennendes? Sie haben in Bezug auf die deutsche Minderheit in Rumänien z.B. die Religion erwähnt."
"Wenn Sie gerade die Religion, die Konfession, erwähnen, halte ich es für absolut zweitrangig, weil die Tradition in den böhmischen Ländern die josefinische Tradition war, das heißt also, die Religion und Konfession sind eine Privatsache, die nur danach zu bemessen ist, ob sie gesellschaftsnützlich ist oder nicht. Das hat im großen Unterschied etwa zum reichsdeutschen Katholizismus oder zum Streit aus der Zeit der Kulturkampfzeit in den böhmischen Ländern überhaupt keine Rolle gespielt. Was wirklich gelegentlich getrennt hat, das war eben die politischen Ausrichtung, das heißt also eine Parteienstruktur, die ganz parallel zur tschechischen war, die also aus der Tradition noch des alten Österreich kam und die nun dazu führte, dass in den 20er Jahren in der Tat zwei Lager einander gegenüber standen. Nämlich einmal die Aktivisten, die mit der Republik zusammen, auf dem Boden der Republik und sogar mit Regierungsbeteiligung das beste für die deutsche Volksgruppe, wie man sagte, herauszuholen trachtete. Auf der anderen Seite diejenigen, die der Republik nach wie vor negativistisch gegenüber standen. Die sagten, wir sind in diese Republik hineingezwungen worden, wir wollen damit nichts zu tun haben. In gewisser Hinsicht arrangierten sie sich doch schon, indem sie etwa auch im Parlament zusammenarbeiteten und sich wählen ließen, aber diese negativistische Richtung, wenn man´s so nennen will, ist dann aber in den 30er Jahren im Rahmen der Sudetendeutschen Partei wieder stärker geworden."
"Sie haben in Ihrem Vortrag erwähnt, dass Präsident bzw. die tschechoslowakische Regierung im Jahre 1937, als sich die politische Lage im Lande zuspitzte, eben diese Aktivisten nicht förderte. Worauf ist das zurückzuführen, hat man vielleicht der Entwicklung freien Lauf gelassen?"
"Ich glaube durchaus, dass es auch ein Stück Demokratie gewesen ist, oder eine Falle der Demokratie in gewissen Hinsicht. Die Regierung der Tschechoslowakischen Republik und auch Präsident Benes, mussten davon ausgehen, dass man mit den Kräften zusammenarbeitet, die in der jeweiligen Gruppe die Mehrheit bildeten. Es hatte sich tatsächlich herausgestellt, dass 1935 ein Wandel eingetreten war, und zwar ein ziemlich radikaler, während seit den 20er Jahren über 66 Prozent, also über zwei Drittel der deutschen Wählerschaft in der Tschechoslowakei die aktivistischen Parteien gewählt hatte, hat eben 1935 dieser Erdrutsch eigentlich stattgefunden. Das heißt also, dass die überwiegende Mehrheit die Sudetendeutsche Partei gewählt hat, von der noch nicht so klar zu erkennen war, dass sie im Lager Hitlers stand, die aber immerhin ganz andere Richtung hatte, die jedenfalls nicht dem Aktivismus zuzuzählen war. Und wenn nun 1937 die schwach gewordenen Aktivisten, die etwa 20 Prozent oder noch weniger Wählerschaft verkörperten, sich mit ihren Forderungen an die Regierung und Präsident Benes wenden, dann muss diese Regierung natürlich, wie Demokraten das so tun, davon ausgehe, dass es eine Minderheit ist und die Minderheit bildet die Opposition und mit der verhandelt man nicht so verbindlich wie wir mit der Mehrheit verhandeln würden. Die Mehrheit war aber die Sudentendeutsche Partei, die ganz andere Forderungen nachher eröffnete, vor allem ein Jahr später, 1938, als es mit den Aktivisten schon ganz zu Ende war, und denen dann die Regierung einfach unter Druck, auch unter internationalem Druck, teilweise nachgeben musste."
Soweit Prof. Hans Lemberg von der Universität Marburg im Gespräch mit Jitka Mladkova. Die Autorin der heutigen Folge von Begegnungen wird Sie auch am Donnerstag nächster Woche noch einmal zu einer Sendung über die Prager Historikerkonferenz einladen.