Herbst-Blues
Der Herbst hat uns wieder. Bald kommt der Winter. Zwiespältig sind die Gefühle der Menschen in dieser Zeit. Dazu das folgende Feuilleton von Alexander Schneller.
Mit dem Beginn der Winterzeit wird uns jeweils bewusst, dass die sonnige, warme Jahreszeit endgültig vorbei ist. Und das zu akzeptieren fällt uns nach dem diesjährigen fantastischen, schier endlos scheinenden Sommer besonders schwer. Und dennoch, jetzt beginnt eine Zeit, die ich nicht ungern habe. Natürlich kann ich auf kaltes, niesliges Wetter, auf das wir uns bald werden einrichten müssen, gerne verzichten. Natürlich bedaure ich, dass es wieder früher dunkel wird, dass die Tage immer kürzer werden. Aber wir realisieren in dieser Zeit, die ja eine Übergangszeit ist, wieder vermehrt die Gegensätze, die unser Leben prägen. Auch da herrscht schliesslich nicht immer eitel Sonnenschein. Schatten und Licht, Hell und Dunkel wechseln beständig. Und wenn es draussen kalt und unangenehm ist, wenn wir frösteln oder gar frieren, dann freuen wir uns auf die Wärme zu Hause, auf die Geborgenheit der eigenen vier Wände. Oder wir fühlen uns wohl in der Kneipe bei einem heissen Punsch.
In diesem Zusammenhang wird einem allerdings schmerzlich bewusst, wie viele Menschen, gerade in einer Grossstadt wie Prag, genau diese Geborgenheit, diese Wärme nicht haben, weil sie gar kein Zuhause haben. Und jetzt sieht man sie wieder, die Obdachlosen, wie sie in der kälter werdenden Zeit in den Strassenbahnen fahren und von Endstation zu Endstation durchschlafen. Wenigstens einmal am Tag an einem warmen, geschützten Ort. Und es sind nicht wenige. Vielleicht werden es von Jahr zu Jahr mehr. Was ich nicht hoffen will, denn die Qualität eines demokratischen und sozialen Staats misst sich auch und gerade daran, wie er mit seinen Schwächsten umgeht. Das sind die düsteren Gedanken, die der Herbst mit sich bringt. Das ist der Herbst-Blues. Der Blues ist zwar meist traurig, erzählt von Leid und Kummer, aber der Blues ist auch schön, weckt Gefühle, die in der grellen Sonne des Sommers nicht angesprochen werden.
Wenn man jetzt durch Prags Gassen, Gärten oder Parks schlendert, dann liegt in der kühlen Luft ein herber Geruch. Es riecht nach Kohle, nach Feuchtigkeit, nach faulig-nassem Laub. Modergeruch vielleicht. Die Blätter fallen zu Boden, manchmal langsam, sich drehend, Kapriolen schlagend, dann wieder heftig von einem Windstoss gepeitscht. Die Natur, die sich noch einmal in pastellener Farbenpracht verausgibt, die noch einmal alle Kräfte und Säfte mobilisiert, bevor sie in den tiefen Winterschlaf versinkt, diese Natur offeriert auch nochmals ihre köstlichen Gaben: die Pilze, den neuen Wein, die gebratenen Kastanien, das Wildbret oder die würzige Luft, die goldenen Lichtreflexe der untergehenden Sonne, die besonders in einer Stadt wie Prag grossartig zur Geltung kommen. Manchmal hingegen legen sich sanfte Nebelschleier über die Stadt und hüllen sie ins Ungefähre. Das alles bereitet uns schon vor auf die kommenden Feiertage, auf Weihnachten, Silvester und Neujahr, auf die Zeit, in der wir Abschied nehmen und neu beginnen, in der wir dem Geheimnis von Zeit und Vergänglichkeit so nahe kommen wie nie.
Sie merken es, liebe Hörerinnen und Hörer, ich habe den Herbst-Blues. Aber genau so wie den musikalischen Blues liebe ich den Herbst, denn er macht uns nachdenklich, aber auch sinnenfroh und vielleicht ein wenig glücklich.