EU-Gipfel gescheitert - Blick aus Prag zurück nach Brüssel
Der mit Spannung erwartete Brüsseler EU-Gipfel hätte am vergangenen Wochenende mit dem Beschluss einer gemeinsamen europäischen Verfassung die vor knapp einem halben Jahr ins Leben gerufene Regierungskonferenz krönen sollen. Die Krönungszeremonie, in Form der Unterzeichnung eines neuen EU-Vertrages, die fand jedoch nicht statt. Der Gipfel gilt zwar nicht in allen seinen Aspekten, wohl aber in seinem Hauptpunkt, als gescheitert. Gerald Schubert hat die tschechische Delegation nach Brüssel begleitet, hören Sie nun sein Resümee der Ereignisse:
Doch blicken wir zurück auf den Beginn des Gipfels, der bei aller Skepsis allgemein noch zumindest von Hoffnung und einem gewissen Zweckoptimismus geprägt war. Am Freitagmittag hat Radio Prag den tschechischen Premierminister Vladimir Spidla vors Mikrophon gebeten:
Radio Prag: "Sie haben in den letzten Tagen immer wieder darauf verwiesen, dass das wichtigste für Sie eigentlich der Erfolg des Gipfels ist. Glauben Sie, dass der Erfolg des Gipfels wahrscheinlich ist? Und wie wichtig ist jetzt der Erfolg im Vergleich zu Forderungen, die die Tschechische Republik durchsetzen kann oder will?"
Vladimir Spidla: "Zurzeit sieht es so aus, dass unsere Forderungen im Prinzip erfüllt sind. Nicht alle natürlich, denn man muss noch über die qualifizierte Mehrheit sprechen, über den Vertrag von Nizza, und über andere komplizierte Fragen wie zum Beispiel die europäische Verteidigung. Also ich kann nicht sagen, dass alles erledigt ist, und dass ich zufrieden bin. Aber im Prinzip läuft es für uns gut."
Und tatsächlich: Für Tschechien lief es auch gut. Denn die Losung von Premier Spidla war es stets, im Hauptstrom der Verhandlungen zu bleiben und sich nicht durch unrealistische Forderungen ins argumentative Abseits zu stellen. Man orientierte sich am Möglichen, die tschechischen Positionen bewegten sich im Rahmen des Verhandelbaren, und das Ziel war es, eine aktive Rolle beim Herstellen eines Kompromisses zu finden.
Allein: Eben die von Spidla genannte Mehrheitsfindung im Europäischen Rat erwies sich doch als zu harter Brocken, um für alle 25 alten und künftigen EU-Staaten verdaubar zu sein. Worum ging es dabei konkret? Laut dem bisher gültigen Vertrag von Nizza gilt das Prinzip der Einigung im Europäischen Rat auf Grundlage der dort festgelegten Stimmgewichtung. Der Verfassungsvorschlag sah nun vor, auf das Prinzip einer doppelten Mehrheit überzugehen. Ein Beschluss sollte von der Mehrheit der Staaten getragen werden, in denen gleichzeitig mindestens drei Fünftel der Bevölkerung leben. Laut Premier Spidla würde das System der doppelten Mehrheit auch dem Europäischen Gedanken entsprechen:
"Europa ist auf zwei Prinzipien gegründet. Das ist zum einen das Kriterium der einzelnen Staaten und zum anderen das Kriterium der europäischen Bevölkerung. Und ein substantielles Problem, das sich nicht einfach wie eine Schlussrechnung lösen lässt, ist ein Gleichgewicht zwischen diesen Kriterien."
Letztlich waren es vor allem Polen und Spanien, die auf ihren in Nizza zugeteilten und für sie vorteilhaften Stimmenanteilen im Europäischen Rat nicht verzichten wollten. Die Einführung der doppelten Mehrheit auf Basis des Konventsvorschlags hätte aber genau diesen Verzicht bedeutet.
Nun wird, so sagen alle Beteiligten einhellig, vorerst weiterverhandelt. Und die Schuld am Scheitern, so heißt es ebenfalls offiziell, die dürfe man nicht nur einem oder zwei Staaten geben. Der tschechische Außenminister Cyril Svoboda meinte zur weiteren Vorgangsweise:
"Besonders wichtig ist das, was auch der Vorsitzende des Europäischen Parlaments gesagt hat: Es darf nun zu keinem Vakuum kommen. Zu keinem Raum für das Nichts zwischen dem heutigen Tag und irgendetwas Zukünftigem. Das heißt, diese Konferenz muss weitergehen."
Weitergehen wird die Konferenz im nächsten Jahr, zunächst unter irischem Ratsvorsitz. Doch vorerst wird es wohl noch eine Zeit dauern, bis man in Europa die bittere Erfahrung verdauen wird, die sich wohl am besten mit dem Schlusstableau der Brüsseler Vorstellung beschreiben lässt - nämlich als am Schuman-Platz vor dem Verhandlungsgebäude Journalisten aus aller Welt in Reih und Glied und im strömenden Regen standen, um zeitgleich bereits um 19 Uhr das Scheitern des ambitionierten Gipfels zu verkünden.