Tschechiens Verfassungsgericht droht Handlungsunfähigkeit

Das Funktionieren des tschechischen Verfassungsgerichtes ist bedroht. Seit geraumer Zeit bereits gelingt es nicht, die durch das Grundgesetz vorgeschriebene 15köpfige Besetzung des Verfassungsgerichts zu erreichen. Das Gremium arbeitet unterbesetzt und somit mit eingeschränktem Kompetenzbereich. Dieser Dauerzustand ist vor allem auf das Tauziehen um konkrete Personen zurückzuführen. Auf der einen Seite steht der Staatspräsident, der die Kandidaten vorschlägt, auf der anderen der Senat, der einige von ihnen nicht akzeptieren will. Über diese Situation unterhielt sich Robert Schuster mit dem Verfassungsrichter Vojtech Cepl - hören Sie dazu die neue Folge der Sendereihe Schauplatz:

Vom Großteil der Öffentlichkeit bislang weitgehend unbemerkt wird Ende März eine der wichtigsten Säulen des tschechischen Verfassungssystems, das Verfassungsgericht, praktisch handlungsunfähig. Von den insgesamt 15 Richterposten werden dann, nach dem Ausscheiden von Richter Pavel Varvarovsky, lediglich 11 besetzt sein, womit die Zahl der Verfassungshüter unter das vorgeschriebene Mindestquorum von 12 sinken wird.

Das Gericht wird dann praktisch nicht mehr über Kompetenzstreitigkeiten oder Verfassungsbeschwerden einzelner Bürger entscheiden können, die bereits alle Rechtsmittel ausgeschöpft haben. Ebenso wenig werden vom Parlament beschlossene Gesetze auf deren Verfassungsmäßigkeit untersucht werden können. Und nicht zuletzt: Es wäre dann theoretisch auch kein Amtsenthebungsverfahren gegen den amtierenden Staatspräsidenten möglich, da es den Verfassungsrichtern obliegt, den Präsidenten aus dem Amt zu verweisen.

Beim gegenwärtigen tschechischen Staatsoberhaupt, Vaclav Klaus, liegt aber gleichzeitig auch der Schlüssel zur Lösung des Problems im Zusammenhang mit den fehlenden Verfassungsrichtern. Laut dem tschechischen Grundgesetz schlägt nämlich der Präsident geeignete Kandidaten für das Verfassungsgericht vor, während die eigentliche Wahl Aufgabe des Senats, also der zweiten Parlamentskammer, ist. Doch gerade Vaclav Klaus ist mit seinen Personalvorschlägen bislang viermal an den Senatoren gescheitert, die in den meisten Fällen ihr Nein mit dem Hinweis auf eine nicht ausreichend gegebene Unabhängigkeit der Kandidaten begründeten.

Somit konnte Klaus während der ersten dreizehn Monate seiner Amtszeit von den insgesamt zehn vakant werdenden Sitzen lediglich sieben neu besetzen und verfehlte somit klar sein nach der Wahl zum Präsidenten selbst gestecktes Ziel.

Dieser Umstand gab in den letzten Monaten oft Anlass zu Überlegungen, ob der Bestellmodus für die Verfassungsrichter angesichts der Schwierigkeiten, konsensfähige Persönlichkeiten zu finden, nicht geändert werden sollte. Das ist eine Vorstellung, die für viele prominente Juristen des Landes schlicht unvorstellbar ist. Dazu gehört auch Professor Vojtech Cepl von der Juristischen Fakultät der Prager Karlsuniversität, der bis Juli vergangenen Jahres selber zehn Jahre lang Mitglied des tschechischen Verfassungsgerichts war. Über die Gründe, warum die Wahl der neuen Verfassungsrichter mit solchen Schwierigkeiten verbunden ist, meint er im Gespräch mit Radio Prag:

"Ich denke, dass die Bedeutung des Verfassungsgerichts nach wie vor nicht ausreichend gewürdigt und dass der Nominierungsprozess unterschätzt wird. Aber das ist leider ein Defizit des gesamten Justizbereichs in diesem Land. Der Fehler ist, dass die Kandidaten für das Verfassungsgericht nicht langfristig gesucht werden, so wie das in anderen Ländern der Fall ist. Natürlich kann es vorkommen, dass der eine oder andere vorgeschlagene Bewerber abgewiesen wird, aber umso wichtiger ist es dann sofort auf Alternativkandidaten zurückgreifen zu können. Keinerlei Verständnis habe ich jedoch für Versuche, die gegenwärtige Krise dadurch zu lösen, dass einfach das Verfahren für die Bestellung der Verfassungsrichter geändert werden würde. Es ist nämlich auch irgendwie typisch für Tschechien, dass immer dann, wenn aus verfassungsrechtlicher Sicht etwas nicht geht, sofort überlegt wird, die Verfassung zu ändern."

Der tschechische Präsident Vaclav Klaus
Ein weiterer Fehler sei, so Cepl, dass vor allem Präsident Klaus die Forcierung bestimmter Kandidaten im Senat mit seinem persönlichen Prestige verknüpfte und sich somit auf Konfrontationskurs begab. So sei etwa der Prager Rechtsanwalt Ales Pejchal vom Präsidenten ungeachtet einer bereits erfolgten Ablehnung durch die Senatoren noch ein zweites Mal ins Rennen geschickt worden und erlitt genauso wie beim ersten Mal Schiffbruch.

Cepl gesteht aber auch ein, dass es nicht gerade leicht ist, geeignete Kandidaten für das Verfassungsgericht zu finden, und verweist dabei auch auf die Generationenfrage. Die Generation der heute 45- bis 60jährigen Juristen wäre zwar für das Amt fachlich sehr gut vorbereitet und verfüge auch über Erfahrungen aus dem Ausland, aber gleichzeitig könne es bei vielen dieser Juristen moralische Bedenken geben, wie er im folgenden erläutert:

"Ich erinnere daran, dass dem ersten tschechischen Verfassungsgericht einige Richter angehörten, die nie Mitglieder der Kommunistischen Partei waren oder sich sogar offen in Opposition zum damaligen Regime befanden. Heute haben aber von den Juristen, die für dieses Amt in Frage kämen, zwangsläufig fast alle eine kommunistische Vergangenheit. Damit komme ich zu einem ganz besonders wichtigen Kriterium, das bei der Auswahl eine wichtige Rolle spielen sollte: nämlich zum moralischen Profil der potentiellen Verfassungsrichter. Wir dürfen nicht vergessen, dass es gerade die Aufgabe der Verfassungsrichter ist, die moralischen Prinzipien einer Gesellschaft zu definieren. Deshalb ist es auch problematisch, dass fast alle der nominierten Richterkandidaten in den 70er Jahren, also während der Normalisierung, in der Partei waren, also in einer Zeit, als der Rest der Gesellschaft längst das ganze System durchschaut hatte."

In vielen westeuropäischen Ländern ist gegenwärtig die Tendenz zu beobachten, dass wichtige politische Entscheidungen nicht etwa von den Parlamentsabgeordneten gefällt werden, sondern erst von den Verfassungsrichtern. So fielen zum Beispiel in Deutschland die Entscheidungen über Auslandseinsätze der Bundeswehr oder den so genannten großen Lauschangriff erst in Karlsruhe. In Tschechien, so Professor Cepl im Gespräch mit Radio Prag, seien bislang ähnliche Fälle ausgeblieben - wenn auch unmittelbar nach der Wende das Verfassungsgericht von vielen Seiten kritisiert wurde, es unterstütze im Rahmen der Restitution des von den Kommunisten enteigneten Besitzes eindeutig die Anliegen der Kläger.

Dennoch habe sich im Verlauf der Jahre die Haupttätigkeit des tschechischen Verfassungsgerichts gewandelt und sich stärker mit Fragen der Qualität des politischen Systems in Tschechien befasst, wie sich Vojtech Cepl im Folgenden erinnert:

"Am Anfang lag die Hauptaufgabe darin, die Institution des Verfassungsgerichts zu etablieren, denn es gab in dieser Hinsicht keine große Tradition. Es gab sogar eine Phase, die von den Medien etwas übertrieben als 'Krieg der Gerichte' bezeichnet wurde, und wo es um juristische Streitigkeiten zwischen dem Verfassungs- und dem Höchstgericht ging. Und ebenso musste sich auch das Verhältnis zwischen Verfassungsgericht und Regierung bzw. Parlament erst entwickeln. Denn hier gab es auf einmal eine Institution, die alle Beschlüsse wieder aufheben konnte. Aber das ist auch gut so, denn die Konfrontation zwischen den höchsten Institutionen eines Staates ist der Beweis dafür, dass die Gewaltenteilung in Takt ist."

Im Zusammenhang mit dem tschechischen Verfassungsgericht kann auf ein weiteres interessantes Phänomen hingewiesen werden. Ähnlich wie etwa der Oberste Rechungshof des Landes, verfügt auch das Verfassungsgericht in den Augen der breiten Öffentlichkeit über ein relativ hohes Ansehen. Zu den Gründen für diese hohe Legitimationsbasis hören Sie abschließend noch einmal den früheren Verfassungsrichter Vojtech Cepl:

"Das ist - denke ich - ganz wichtig, weil es auf ein Grundproblem unserer heutigen Zeit hinweist, d.h. auf den Konflikt zwischen Parlamentarismus und Konstitutionalismus. In den Köpfen vieler tschechischer Politiker überwiegt leider die Auffassung, dass dem Parlament die zentrale Macht gebührt, weil die Parlamentarier gewählte Vertreter des Volkes seien und somit über alle Macht verfügen sollten. Ich denke aber, dass die Menschen in ihrem Unterbewusstsein spüren, dass dieser Standpunkt nicht richtig ist und Mehrheitsentscheidungen auch zu Diktaturen führen können. Jene Institutionen, die dagegen steuern und eine Art Ausgleich schaffen können, verfügen deshalb über höheres Prestige, als das Parlament, wo es oft um Einzelinteressen, oder kurzsichtige, populistische Maßnahmen geht. Darin liegt auch die Krise des modernen Parlamentarismus, die jedoch weit über die Grenzen dieses Landes hinaus wahrzunehmen ist."