Obdachlos in Prag

3096 Personen, davon 434 Frauen. So nüchtern lautet in Zahlen das Ergebnis der ersten Zählung von Obdachlosen in Tschechiens Hauptstadt Prag. Den über 3000 Männern und Frauen stehen 700 Plätze in sozialen Einrichtungen gegenüber. Orte, an denen Menschen übernachten und sich waschen können. Tagesstätten, in denen diejenigen, die durch die Maschen des sozialen Netzes gefallen sind und auf der Straße leben, eine Mahlzeit, einen Arzt und ein offenes Ohr finden. Daniel Satra hat einen dieser Orte am Prager Hauptbahnhof besucht.

Prager Wenzelsplatz...
Draußen vor der Tür scheint die Sonne, der Mai zeigt sich von seiner freundlichen - und vor allem warmen - Seite. Drinnen ist es fast leer: Der Fernseher, in der Ecke rechts, zeigt Werbung. Am Tisch in der Ecke links spielen zwei Schach. Desinfektionsmittelgeruch schwebt über den weißen Fliesen. Tische, Stühle und ein Tresen: Hier können sich Bedürftige mit Altkleidern neu einkleiden. Wenig los in der Anlaufstation für Obdachlose von der Bürgerinitiative "Nadeje" (Hoffnung). Die Sozialarbeiterin Barbora Hejdová weiß warum:

"Im Winter ist die Zahl unserer Klienten höher, im Sommer niedriger. Im Winter, wenn es kalt ist, wenn es kaum möglich ist Unterschlupf zu finden, wenn es keine Schlafmöglichkeit für sie gibt, dann kommen sie sehr viel öfter in unsere Einrichtungen und bitten uns um Hilfe."

Und für Hilfe ist gesorgt bei "Nadeje", mit 400 Angestellten landesweit und unzähligen Ehrenamtlichen, eine der großen Hilfseinrichtungen für Obdachlose in der Tschechischen Republik. Neben Essen- und Kleiderausgabe, können Menschen, die auf der Straße leben hier einen Arzt aufsuchen, und wenn nötig auch mal ein paar Nächte bleiben, um eine Grippe auszukurieren. Auf den ersten Blick steht kurzfristige Hilfe im Vordergrund. Langfristig liegt den Helfern von "Nadeje" aber vor allem die Selbständigkeit ihrer Klienten am Herzen:

Foto: Europäische Kommission
"Die Menschen, die hier her kommen, neigen oft dazu zu sagen: So, jetzt bin ich hier, hier habt ihr mich, macht etwas mit mir."

Doch das kann und will "Nadeje" nicht, sagt Hejdová.

"Wir sind hier auf keinen Fall in der Position, einem Klienten zu befehlen, was er konkret zu machen habe, und zu sagen, wie wir ihm dabei helfen. Wir versuchen vielmehr den Klienten dazu zu motivieren selbst festzulegen, wie er seine Problemsituation lösen will."

Und Probleme haben tschechische Obdachlose genug. Nicht nur, dass ihnen ein Dach über dem Kopf fehlt. Die meisten haben auch kein Geld. Sie verzichten auf mühselige Behördengänge, bei denen Beamte Ausweispapiere, Fotos, Krankenversicherungsnachweise und Vieles mehr fordern. Dinge, die kaum ein Obdachloser noch besitzt. Die er aber braucht, um sich arbeitslos melden zu können oder Sozialhilfe zu beantragen. Hier hilft "Nadeje" ihren Klienten, denn der Gang zum Amt, sei oft der erste Schritt in Richtung Wiedereingliederung in die tschechische Gesellschaft, sagt Hejdová. Die 33-jährige Sozialarbeiterin unterscheidet zwei Gruppen Obdachloser:

"Es gibt die, die einen Bankrott erlebt haben, bei denen etwas im Leben schief gelaufen ist. Das sind die älteren Klienten. Bei den jüngeren handelt es sich um Klienten, die zum Beispiel durch mehrere Anstalten gegangen sind. Jugendanstalten, in denen alles nach klaren Regeln ablief."

Neben Schicksalsschlägen und Heimkarriere führt noch ein dritter Weg in Tschechien oft in die Obdachlosigkeit, sagt Hejdová:

"Wir haben hier eine Vielzahl von Klienten, die Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken hinter sich haben. Sie wurden als stabile Patienten, die sich um sich selbst kümmern können, entlassen. Doch um sich selbst kümmern können sie sich nur, wenn sie auch ein stabiles Umfeld haben, und wenn sie die Mittel dazu haben. Wenn sie einen solchen Hintergrund jedoch nicht haben, dann enden sie leider auch auf der Straße."

Menschen ohne Obdach, ausgeschlossen aus der tschechischen Mehrheitsgesellschaft. Wie können Sozialarbeiter eingreifen, wie helfen? Hejdová hat ein Beispiel: Einer jungen Frau, die Kindheit und Jugend in Heimen verbracht hatte, konnte sie helfen. Verängstigt und ohne jedes Selbstbewusstsein sei sie gewesen, als sie zu "Nadeje" kam. Ihr Freund, der immer alles für sie entschieden hatte, war verhaftet worden. Eine Chance, dachte Hejdova und nahm sich der Klientin an. Die Schwangere lebte teils in einem besetzten Haus teils auf der Straße.

"Sie war nicht einmal in der Lage selbständig in einen Laden zu gehen und Brötchen zu kaufen. Das war zu problematisch für sie, sie hatte Probleme unter Menschen zu gehen, etwas zu regeln. Das hatte sie nie gelernt."

Die Entmündigung im Heim, die vorgegebenen Strukturen im Rhythmus der Tage, diese Funktion hatte später ihr Freund übernommen. Anfangs fragte sie sogar die "Nadeje"-Mitarbeiter um Erlaubnis, wenn sie auf Toilette gehen wollte. Nicht nur gutes Zureden, der Versuch ihr klar zu machen, dass sie selbst für sich entscheiden könne und müsse habe geholfen, sagt Hejdová. Auch andere Hürden habe sie hinunter geschraubt:

"Ohne dass sie davon wusste, habe ich auf dem Amt angerufen. Ich habe dann immer gesagt: 'Zu ihnen kommt Frau so und so, und sie wird das und jenes brauchen.' Ich habe die Mitarbeiter gebeten, sie nicht rauszuschmeißen und sie nicht zu erschrecken. Ich habe ihnen auch gesagt, dass sie ein sehr schweres Leben mit sehr schlechten Erfahrungen hinter sich hat."

Eine Strategie, die Erfolg hatte. Einen Erfolg, den sich die junge Frau selbst zuschrieb - sie hatte es geschafft ihr Leben in die Hand zu nehmen, ganz allein, vermeintlich ohne fremde Hilfe. "Sie hätten sie sehen sollen, wie glücklich sie war", freut sich Hejdová. Heute, drei Jahre später, hat die ehemalige Klientin eine eigene Wohnung und geht arbeiten. Dabei, und das betont die Sozialarbeiterin, hat Obdachlosigkeit nicht immer etwas mit Arbeitslosigkeit zu tun:

"Es geht nicht immer um Arbeit. Oft steckt eine eigene Problemlage beim Klienten dahinter. Das können psychische Probleme sein, Familien- oder Gesundheitsprobleme. Erst danach spielt Arbeit eine Rolle. Wir versuchen also in der Regel die Probleme zu lösen, die noch vor der Arbeit beginnen."

Diese Probleme vor der Arbeit hat auch Josef Figr gelöst. Der 21-Jährige hatte Hilfe bei "Nadeje" gesucht und gefunden.

"Ich war auf der Straße und habe Drogen genommen, ich hatte Probleme mit Drogen. 'Nadeje' hat mir geholfen, denn ich hatte die Chance einen Entzug zu machen. Sechs Monate war ich in Behandlung. Danach haben sie mir angeboten hier zu arbeiten. Ich hab gesagt: 'Ja, das kann ich, das mach ich gern'."

Jetzt steht Figr in der Sonne auf dem Gehweg vor dem Haus, einem Altbau aus der Gründerzeit. Den Pinsel in der rechten, den Farbeimer in der linken Hand. Bis zum ersten Stock hat er die Fassade bereits ockergelb gestrichen, die nächsten vier Stockwerke sollen folgen.

"Ich war von klein auf im Kinderheim und später dann im Jugendheim. Ich hatte keine Wohnmöglichkeit danach und bin dann nach dem Jugendheim gleich auf der Straße gelandet."

Geld verdient der ehemalige Obdachlose zwar kaum bei "Nadeje", aber dafür hat er Kost und Logis frei. Und er hat Pläne:

"Ich will arbeiten gehen. Und wenn ich das lange mit der Arbeit aushalte, will ich mir eine andere, eine bessere Arbeit mit mehr Verdienst besorgen, und natürlich auch irgendeine Wohnung."

Bei Figr und vielen anderen ist das Konzept Hoffnung der gleichnamigen Bürgerinitiative offenbar aufgegangen. Doch diese Arbeit mit den Menschen am Rand der tschechischen Gesellschaft erfordert Zeit, Kraft und vor allem Geld, sagt Hejdová. Und davon gibt es, wie überall im tschechischen Sozialsektor, hoffnungslos wenig.