Armut in Tschechien
Die Vorstellung, die man in Westeuropa von den Ländern hat, die ehemals hinter dem Eisernen Vorhang lagen, ist oft noch stereotyp: Graue Städte, verfallene Häuser und allerorten Armut. Dass das höchstens ein kleiner Teil der Wahrheit ist, davon kann sich jeder überzeugen, der einmal selbst zum Beispiel nach Tschechien kommt. Dennoch ist Armut natürlich auch hierzulande ein Thema. Anlässlich des Internationalen Tags zur Beseitigung der Armut richteten die Caritas Prag und die Heilsarmee ein Seminar zu diesem Thema aus. Thomas Kirschner war dabei.
"Wir haben dieses Seminar ausgerichtet, weil eine ganze Reihe von Ländern auf der Welt Probleme mit Armut haben. Sie können das entweder anerkennen und versuchen, eine Lösung zu finden, oder sie sagen ´Wir haben kein Problem`. Und wir glauben, dass Tschechien und überhaupt die Länder der EU letzteres tun. Der 17. Oktober ist der internationale Tage zur Beseitigung der Armut, und unser Seminar ist nur ein Teil der internationalen Veranstaltungen."
Bei Stichwort Armut denkt man meist zunächst an Bettler und Obdachlose - Menschen, deren Lebensrealität weit von der der Durchschnittsbürger entfernt ist. Viele fühlen sich von dem Thema daher nicht betroffen. Grundsätzlich fehlt es an Informationen. Durch Aktionen in der Stadt sollen daher auch die Bürger mit dem Thema konfrontiert werden."Die Gesellschaft interessiert sich mäßig für die Frage der Armut, aber auch hier gibt es zwei Seiten. Die einen sagen: ja, Armut gibt es, lasst uns etwas dagegen tun. Aber sie wissen oft nicht, was sie tun können. Die andere Seite sagt: Armut ist nicht mein Problem. Wir als die unabhängigen Institutionen wie Heilsarmee, Caritas usw. wollen vor allem Informationen zur Verfügung stellen, was die Gesellschaft gegen Armut tun kann."Was aber ist Armut überhaupt? Nicht einmal die Statistiker sind sich darüber einig, die doch sonst alles ganz genau wissen. Je nach Untersuchung werden verschiedene Schwellenwerte angesetzt. In der EU gilt der als arm, dessen Einkommen weniger als 60 Prozent des Durchschnittsverdienstes erreicht. In Tschechien selbst dagegen wird die Armutsgrenze häufig mit dem Mindestlohn gleichgesetzt, der derzeit 6700 Kronen, also rund 220 Euro beträgt und damit deutlich unter der 60-Prozent-Schwelle liegt. Einige Studien setzen sogar das Existenzminimum mit der Armutsgrenze gleich - ein wahrer Euphemismus, jemanden, der mit weniger als 4100 Kronen oder 140 Euro im Monat auskommen muss, nur als "arm" zu bezeichnen. Immerhin zeigen diese Zahlenreihen, dass Armut nicht nur an das objektive Einkommen gebunden ist, wie die Leiterin des Sozialamtes Prag 11, Pavla Kalitova, erläutert.
"Für manche Menschen heißt Armut, dass ihr Einkommen unter das Existenzminimum sinkt, manche fühlen sich schon bei einem Einkommen von 15 000 Kronen, also etwa dem tschechischen Durchschnittslohn, arm. Für mache Menschen ist es Armut, wenn sie es sich nicht mehr leisten können, sich in der Bibliothek Bücher auszuleihen, wie sie es ihr ganzes Leben gemacht haben, und andere fühlen sich schon arm, wenn sie nicht jeden Monat einen neuen Kühlschrank kaufen können. Alles ist relativ und das kann man nur individuell beurteilen."Übereinstimmend zeigen die Studien aber, dass es in Tschechien im europäischen Vergleich verhältnismäßig wenig Armut gibt. Ein überraschendes Ergebnis sicherlich für Menschen, die viel reisen und sich auf ihren Augenschein verlassen. Die Erklärung mag darin liegen, dass dafür nach der Statistik ein überdurchschnittlich großer Teil der Bevölkerung nur knapp über der Armutsgrenze lebt. In der relativen Ausgeglichenheit der Gesellschaft, wenngleich auf niedrigem Niveau, sehen Soziologen immer noch die Nachwirkungen des Sozialismus. Dennoch müssen knapp 400 000 der 10 Millionen Tschechen mit weniger als dem Existenzminimum auskommen. Der häufigste Grund dafür ist überall gleich, erklärt nochmals Pavla Kalitova vom Sozialamt in Prag 11.
"Das ist der Verlust der Arbeit. Junge Leute kommen damit noch einigermaßen zurecht, aber Leute über 50 Jahre nehmen das sehr schwer. Das sind Menschen, die ihr ganzen Leben gearbeitet haben und dann auf einmal ohne Arbeit dastehen. Oft geht das dann mit einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes einher und mit psychischen Problemen. Solche Menschen tun uns sehr leid - und deshalb versuchen wir zu helfen."
Armut geht häufig mit sozialer Schwäche einher, und soziale Schwäche birgt wiederum eine verstärkte Gefahr von Armut. Ein Teufelskreis, der, zumal mit den eingeschränkten Mitteln der Sozialbehörden, nicht leicht zu durchbrechen ist. So ist es bezeichnend, dass Pavla Kalitova, nach ihren Wünschen befragt, Geld nicht an erster Stelle nennt.
"Was wir uns wünschen? Meine Güte, das ist eine ganze Menge. Größere Vollmachten zu haben, denn was wir dürfen, reicht nur von hier bis da, dann ist das Gesetz davor. Dann wünschen wir uns einen 30-Stunden-Tag-damit wir alles schaffen, außerdem eine ausreichende Zahl von Sozialunterkünften und mehr Platz in Seniorenheimen, und dann bräuchten wir noch ... na, einfach einen Haufen Sachen, wirklich einen Haufen."
Es mag zunächst paradox klingen, und angesichts der fast 400 000 Menschen, die in Tschechien am Existenzminimum leben, sogar zynisch: aber Armut ist nicht ausschließlich eine Frage des Geldes. Armut verweist zugleich immer auf den Zustand der Sozialstrukturen und des Gemeinschaftssinns einer Gesellschaft. Wo diese brüchig werden, sei es in der Familie oder in der Solidargemeinschaft des Staates, da kann sich Armut leicht ausbreiten - materielle, aber auch soziale. Darauf weist auch die Vorsitzende der Bürgervereinigung SKOK Milena Cerna hin:
"Plötzlich ist die Gesellschaft ärmer als früher, obwohl das Angebot an Kultur und an allem groß ist und viele Leute das auch ausnützen. Aber es gibt eine Schicht von Leuten, die irgendwie ´kahl´ leben. Sie nehmen nicht ernst, dass sie so schön in der Gemeinschaft leben können."
Die Basis jeder Armutspolitik muss daher sein, den sozialen Zusammenhalt und die Solidarität in der Gesellschaft zu stärken. In Tschechien wie auch in den anderen ehemals sozialistischen Staaten Mitteleuropas eine besondere Aufgabe, denn nach Jahrzehnten sozialistischer Zwangsvergemeinschaftung steht das Miteinander nicht überall hoch im Kurs.