"Auf einer Höhe mit der Gegenwart" - Buchkultur in Tschechien heute

"Co Cech, to knihomol", schrieb vor kurzem die tschechische Frauenzeitschrift Vlasta: Ein rechter Tscheche ist ein Bücherwurm. In der Tat war die Leselust der Nation zu Zeiten, als noch der eiserne Vorhang Europa trennte, geradezu legendär. Der Fall des sozialistischen Regimes jährt sich in diesen Wochen aber bereits zum fünfzehnten Mal, und mit der gesamten Gesellschaft hat sich auch der Buchmarkt verändert. Thomas Kirschner sprach mit dem Chefredakteur der Literaturzeitung TVAR und der Leiterin der Prager Universitätsbuchhandlung Fiser.

Schon ein oberflächlicher Blick in die Buchhandlungen macht deutlich, was sich in den letzten eineinhalb Jahrzehnten verändert hat: Keine kleinen Geschäfte mehr, in denen der Kunde an der Ladentheke seine Wünsche vorbringen muss, sondern Tempel aus Glas und Stahl mit endlosen Regalen, deren Inhalt man selbst erforschen darf - und muss. So jedenfalls präsentieren sich die beiden größten Prager Buchhandlungen die am Wenzelsplatz einander gleich gegenüber liegen: die Buchhandlung Kanzelsberger und der neue Megastore "Palast der Bücher" (Palac knih). Die Neuerscheinungen wollen eben irgendwo untergebracht sein: Tag für Tag kommen in Tschechien 39 neue Titel auf den Markt, mehr als 14 000 im vergangenen Jahr. Eine beachtliche Zahl für ein Zehn-Millionen-Volk. Ein zweiter Blick in die Regale zeigt aber, dass ein großer Teil davon Übersetzungen amerikanischer Liebesromane und billiger Historienschmöker sind. Auch das ein Unterschied zu der Zeit vor 1989, als solche Literatur nicht gedruckt wurde und die meisten Bücher entweder langweilig oder verboten waren. Um den schmalen Rest, so erinnert sich die Buchhändlerin Alena Paluskova, entbrannte daher in den Buchhandlungen ein heißer Kampf - jeden Donnerstag, wenn die neue Ware geliefert wurde.

"Jeden Donnerstag gab es Schlangen, hauptsächlich für Krimis und Titel von Bohumil Hrabal und ähnliche Bestseller. - daneben gab es natürlich auch haufenweise Bücher, die sich nicht verkauft haben. Jeden Donnerstag war das so, das war jedes Mal ein Erlebnis, schon an der Grenze zur Verrücktheit. Von manchen Titeln durften wir zum Beispiel nicht mehr als ein Stück pro Person verkaufen, etwa wenn wir 50 Bücher von Bohumil Hrabal bekommen haben und da standen dann 150 Menschen vor der Tür. Da haben sich dann manchmal komische Szenen abgespielt... als ginge es ums Leben."

Alena Paluskova ist heute die Leiterin der Universitätsbuchhandlung Fiser, gleich neben der Philosophischen Fakultät in der Prager Altstadt gelegen. Wie steht es aus ihrer Sicht um den tschechischen Buchmarkt heute?

"Ich muss leider sagen: der Verkauf geht immer weiter zurück. Nicht gemessen an den Umsätzen, denn die Bücher werden zugleich immer teurer. Aber wenigstens bei uns als Universitätsbuchhandlung ist der Einfluss der neuen Medien deutlich zu spüren - Studenten benutzen verstärkt das Internet und holen sich ihre Informationen von dort. Es kommen zwar mehr Leute, um sich hier umzuschauen, aber der Verkauf ist niedriger."

Dazu tragen nicht zuletzt auch auf die stark gestiegenen Buchpreise bei. Zwar sind Bücher in Tschechien im europäischen Vergleich immer noch billig - für ein gebundenes Buch werden im Schnitt 200 Kronen, also etwa sechs Euro fällig. Die Preise haben sich jedoch in den letzten zehn Jahren verfünffacht und damit die Einkommensentwicklung weit hinter sich gelassen. Für einen Studenten, der für rund 30 - 50 Kronen in der Stunde jobbt, wird ein Buch so schnell zur großen Anschaffung. Damit ist auch endgültig die Zeit vorbei, in der man Beststellerautoren wie Bohumil Hrabal oder Ivan Klima in Hunderttausender-Auflagen unter das Volk brachte. Zumindest Belletristik ist inzwischen weitgehend zum Zuschussgeschäft geworden, erläutert der Chefredakteur der Literaturzeitung TVAR (Gestalt), Ondrej Horak:

"Grundlegend lässt sich sagen, dass sich die Auflage bei Gedichten so um 300 Stück bewegt, bei Prosa etwa um 5000. Aber dann gibt es zum Beispiel die junge Autorin Petra Hulova, deren Bücher eine Auflage von 10000 haben. Aber das sind wirklich Ausnahmen, sonst bleibt es bei den zuerst genannten Zahlen. Das heißt, dass das Verlegen von tschechischer Belletristik ein Verlustgeschäft ist. Das Geld dafür muss man woanders verdienen."

An welchen Büchern aber verdienen die Verlage? Was lesen und was kaufen die Tschechen? Nochmals die Buchhändlerin Alena Paluskova:

"Bei uns als Universitätsbuchhandlung ist das vor allem populärwissenschaftliche Literatur und Sachbücher, etwa Titel aus den Bereichen Reise, Geographie oder Geschichte. Und nach dem, was ich in den anderen Buchhandlungen sehe, glaube ich, dass das dort ähnlich ist. Populärwissenschaftliche Titel verzeichnen einen großen Anstieg, sie werden viel verkauft und gelesen."

Zu den beliebtesten Büchern Tschechiens wurden in der vergangenen Woche in einer Internet-Umfrage allerdings "Harry Potter" und "Der Herr der Ringe" gekürt - Produkte, die international und über alle Medien vermarktet werden. Für die vergangenen Jahre sieht der Publizist Ondrej Horak von der Literaturzeitung TVAR aber auch im Nachholen des Versäumten einen starken Trend bei den tschechischen Lesern, auch wenn sich dies nicht in Beststellerlisten niederschlägt.

"Ich glaube, die Tschechen lesen wirklich gerne "Harry Potter" und "Der Herr der Ringe", darin unterscheiden sie sich nicht von andern Nationen. Und was die gegenwärtige tschechische Belletristik angeht, da gab es in den Jahren seit der Revolution sicher einen gewissen Nachholeffekt. Es wurden Bücher, Memoiren und Aufzeichnungen herausgegeben, die hier vierzig Jahre nicht erscheinen durften. Und jetzt sind wir allmählich da angekommen, dass zeitgenössische Werke junger Autoren Beachtung finden. Man kann sagen, dass die vierzig Jahre lang angehäuften Schulden jetzt mehr oder weniger zurückgezahlt sind und wir, was die Belletristik betrifft, wieder auf einer Höhe mit der Gegenwart sind."

Die goldenen Nachwendezeiten sind vorbei, als Büchermachen zum Volkssport wurde. Wer damals nicht wenigstens ein paar Stapel selbst herausgebrachter Bücher daheim im Korridor aufgetürmt hatte, der galt nichts, erinnert sich die Wirtschaftszeitung Hospodarske noviny. Seitdem haben Bücher in Tschechien sicher an Bedeutung verloren. Nicht nur ein schlechtes Zeichen, zeigt es doch auch, dass der freie Zugang zu Büchern in guter Weise selbstverständlich geworden ist. Der oft ausgerufene Tod des Buches droht jedenfalls auch in Tschechien noch lange nicht, meint der Publizist Ondrej Horak.

Knihovna
"Wir sind eigentlich eine Nation, die auf der Grundlage der Sprache errichtet wurde, kann man sagen. Über die Sprache haben wir uns im Laufe des 19. Jahrhunderts dem deutschen Einfluss entzogen. Im letzten Jahr sind 14 600 Bücher in Tschechien erschienen, was nicht wenig ist. Also offensichtlich funktioniert das Medium Buch noch. Wenngleich auch in anderen Genres als es jemandem wie mir aus dem Umkreis einer Literaturzeitschrift gefallen würde."

Sind die Tschechen also trotz allem doch noch "knihomolové", Bücherwürmer? Für die jugendlich wirkende Buchhändlerin Alena Paluskova keine Frage.

"Das würde ich ganz sicher unterschreiben! Ich habe eine gute Freundin, die seit einigen Jahren in Deutschland lebt, in Bonn, die ist eine große Leserin. Und ihr Buchhändler ist immer ganz erstaunt über ihre Kenntnisse und wie gut sie über die Neuerscheinungen Bescheid weiß. Also ich glaube schon, die Tschechen sind ein Volk von Lesern - zumindest meine Generation. Das gilt immer noch."