Ein Rückblick auf das politische Geschehen in Tschechien im abgelaufenen Jahr

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Der Schauplatz zum Jahresauftakt ist schon traditionell einem Rückblick auf die vergangenen zwölf Monate gewidmet. Einige der wichtigsten Ereignisse des Jahres 2004 aus tschechischer Sicht lässt Robert Schuster für Sie noch einmal Revue passieren.

Das vergangene Jahr brachte in Tschechien eine ganze Reihe wichtiger Ereignisse und Veränderungen mit sich. An erster Stelle ist wohl in diesem Zusammenhang der Beitritt des Landes zur Europäischen Union zu erwähnen, dessen Tragweite zu diesem Zeitpunkt vielleicht noch gar nicht abzusehen ist.

Aus innenpolitischer Sicht war das Jahr 2004 zweifellos ein Super-Wahljahr mit insgesamt drei Wahlgängen. Dabei wurden die Mandate in den Regionalparlamenten, in einem Drittel der Senatswahlkreise und schließlich erstmals auch im Rahmen des Europaparlaments neu verteilt. Egal auf welcher Ebene im vergangenen Jahr gewählt wurde - das Bild nach der Verkündung der Ergebnisse war stets das Gleiche: Während die parlamentarische Opposition aus rechtsliberaler Demokratischer Bürgerpartei (ODS) und Kommunisten angesichts der guten Ergebnisse strahlen konnte, verfiel die Regierungsseite, und da vor allem die Sozialdemokratie als stärkste Partei, in tiefe Depressionen und innerparteiliche Grabenkämpfe.

 Stanislav Gross  (Foto: Zdenek Valis)
Vor allem das klare Scheitern bei den ersten tschechischen Europawahlen Mitte Juni, als die Sozialdemokraten lediglich Rang fünf belegen konnten, führte bei der größten Regierungspartei zu einem Knalleffekt. Ende Juni, also zwei Wochen nach dem Wahlgang, kündigte der damalige Premierminister Vladimir Spidla seinen Rücktritt als Regierungs- und Parteichef an. Sein Nachfolger, der 34jährige Innenminister Stanislav Gross, brauchte fast zwei Monate, bis er ein neues, nur geringfügig verändertes Kabinett präsentieren konnte. Doch auch Gross, der bis dahin jahrelang zu den beliebtesten Politkern des Landes gehörte, konnte den Abwärtstrend in den Umfragen für seine Partei nicht stoppen, ebenso wenig konnte er die parteiinternen Flügelkämpfe eindämmen.

Die großen Profiteure dieser Krise bei den Sozialdemokraten waren aber nicht etwa die oppositionellen Bürgerlichen, sondern die ebenfalls sich in Opposition befindenden Kommunisten. Fünfzehn Jahre nachdem die frühere kommunistische Staatspartei ihre Macht abgeben musste, scheint die nur kosmetisch reformierte Nachfolgegruppierung in Tschechien eine immer stärkere Rolle zu spielen und von den Wählern auch zunehmend akzeptiert zu werden. Wo liegen die Gründe dafür? Das fragten wir den Politikwissenschaftler Rudolf Kucera von der Prager Karlsuniversität:

ODS-Kongress  (Foto: Zdenek Valis)
"Hier handelt es sich eigentlich um einen Wettstreit zweier Parteien, nämlich der Sozialdemokraten und der Kommunisten, um linksgerichtete Wähler. Die erstgenannten sind, wie die Wahlergebnisse zeigen, mit ihrem Vorhaben gescheitert, den Großteil dieser linken Wähler anzusprechen. Was diese Wähler angeht, so muss man unterscheiden: Ein Teil davon besteht aus Menschen, die aus Prinzip alles ablehnen, was sich in dem Land in den vergangenen 15 Jahren verändert hat und die dem alten System nachtrauern. Daneben gibt es noch eine gemäßigte Gruppe, die man der linken Mitte zuordnen könnte. Der Fehler, den die Sozialdemokraten im vergangenen Jahr begangen haben, war, dass sie fälschlicherweise versuchten, die radikale Gruppe anzusprechen, anstatt sich um die Gemäßigten zu kümmern. Vielleicht ist aber die jüngste Entwicklung in der Partei und das relativ starke Eintreten für Reformen ein Zeichen für einen Kurswechsel und dafür, dass man sich nun um eine andere Art von linken Wählern bemühen will."

Nach den jüngsten Wahlerfolgen der Kommunisten, die der Partei zumindest vorübergehend den zweiten Platz einbrachten, wurde vonseiten einiger tschechische Politikforscher die Meinung geäußert, es könnte in der Parteienlandschaft Tschechiens mittelfristig zu einer Umstrukturierung und damit auch zu einer neuen Polarisierung kommen. Der Schwerpunkt der politischen Auseinandersetzung würde dann nicht mehr zwischen den Bürgerdemokraten und den Sozialdemokraten, sondern zwischen den Bürgerdemokraten und den Kommunisten verlaufen. Was meint Rudolf Kucera zu dieser These?

"Diese Gefahr ist wirklich sehr real. Denn wenn es den Sozialdemokraten nicht gelingen sollte die gemäßigten linken Wähler anzusprechen, dann werden tatsächlich die Kommunisten auch für diese Wählergruppe das einzige Sprachrohr. Das würde sicherlich auch auf die übrigen tschechischen Parteien Einfluss haben, nicht zuletzt auch auf die bürgerlichen, da es die Kommunisten immer wieder schaffen, jeden, selbst den kleinsten Fehler der Mitbewerber für sich zu nutzen. Das könnte zur Folge haben, dass eben auch die anderen Parteien den Stil und die Methoden der Kommunisten übernehmen könnten. Die Konsequenz wäre eine politische Landschaft, um die uns wohl in Europa niemand beneiden würde."

Überall in Europa befinden sich die Regierungsparteien gegen Ende der ersten Hälfte ihrer Amtszeit oft in einem Stimmungstief, was sich insbesondere in den Ergebnissen diverser Meinungsumfragen niederschlägt. Ebenso häufig tritt dann in der zweiten Hälfte ein Umschwung in den Popularitätswerten ein, der sogar noch für einen erneuten Wahlsieg ausreichen kann. Für wie wahrscheinlich hält der Politikwissenschaftler Kucera, dass dieses Kunststück auch den tschechischen Sozialdemokraten gelingen könnte?

"Es kann Vieles passieren und die Gunst der Wähler kann sich leicht ändern, aber ich denke, dass die Sozialdemokraten ihre Chance bereits vergeben haben, weil sie aus ihrer Führung jene Persönlichkeiten beseitigt haben, die eine Alternative zur jetzt herrschenden Klientelpolitik waren. Zudem besteht die Gefahr einer bedeutend geringeren Glaubwürdigkeit bei den Wählern, denn wenn man, wie die Sozialdemokraten, zweimal mit den gleichen Parolen die Wahlen gewinnt, dann aber Vieles beim Alten bleibt, dann muss das Konsequenzen haben. Das einzige, was die Partei jetzt tun kann, ist zu versuchen, ihre Stammwähler zu halten. Es geht also ums politische Überleben, und dieser Kampf muss kein siegreiches Ende haben."

Foto: Europäische Kommission
Nun aber zum zweiten herausragenden Thema des abgelaufenen Jahres, dem Beitritt Tschechiens zur Europäischen Union am 1. Mai 2004. Viele Tschechen haben seither die eine oder andere kleine Freiheit, die die Mitgliedschaft mit sich brachte, erleben dürfen - sei es als Verbraucher in den Geschäften, oder als Reisende, die im EU-Raum keinen Reisepass mehr brauchen.

Lässt sich nach den ersten acht Monaten Mitgliedschaft vielleicht schon eine erste Bilanz ziehen? Es ist zum Beispiel auffallend, dass in Polen, wo es vor dem Beitritt wohl die größte Skepsis gab, heute eine Mehrheit der Bevölkerung, inklusive der polnischen Landwirte, die Mitgliedschaft unterstützt und diese als etwas Positives sieht. Dazu meint der Politologe Kucera:

"Ich denke, dass Tschechien in der Europäischen Union bislang nicht aus der Reihe tanzt und sich durch nichts von den übrigen neuen Mitgliedern unterscheidet. Ich denke, dass auch hierzulande etwas Ähnliches wie in Polen festzustellen ist, nämlich, dass jene Bevölkerungsgruppen, die am meisten Angst hatten vor dem Beitritt, im Gegenteil nun von der Mitgliedschaft profitieren. Auch in Tschechien sind die Landwirte die großen Profiteure, denn sie können nun ihre Milch und dergleichen im Rahmen des Binnenmarkts zu weitaus höheren Preisen nach Deutschland, Österreich oder anderswohin exportieren. Man sieht also, dass die Mitgliedschaft neue Möglichkeiten eröffnet."

Neben den bereits erwähnten Polen gehörten die Tschechen in den letzten Jahren vor dem Beitritt immer zu den größten Euroskeptikern unter den zehn Beitrittskandidaten. Kritik überwiegt in Tschechien gegenwärtig auch bei der Frage einer Annahme des Europäischen Verfassungsvertrags, also jenem Bereich, der wohl 2005 zu den dominierenden europäischen Themen gehören wird.

Könnten aus mittelfristiger Sicht diese positiven Erfahrungen bestimmter Bevölkerungsgruppen mit den praktischen Folgen der EU-Mitgliedschaft auch bei der Gesamtbevölkerung die Zustimmungsrate zur Gemeinschaft steigen lassen? Hören Sie dazu abschließend noch einmal den Politikwissenschaftler Rudolf Kucera von der Prager Karlsuniversität:

"Das ist sehr wahrscheinlich, denn je mehr Menschen sehen werden, welche Möglichkeiten sich durch die Mitgliedschaft eröffnen, desto stärker wird das auch die Gesamteinstellung ändern. Ich sehe das bei meinen Studenten, von denen einige ab diesem Wintersemester im Rahmen verschiedener EU-Programme bereits in der Gemeinschaft studieren. Es ist interessant, dass gerade für diese jungen Menschen die ganzen Polemiken zum Thema EU, zum angeblich drohenden Souverenitätsverlust, oder zur Europäischen Verfassung, die hierzulande manchmal von den politisch Verantwortlichen geführt werden, keine Bedeutung haben. Es ist also gut möglich, und ich würde mir das wünschen, dass im Horizont der nächsten fünf Jahre eine Mehrheit der Tschechen der EU gegenüber weitgehend positiv eingestellt sein wird."