Kleines Feuilleton über große Tschechen
Mit der nationalen Größe und den nationalen Größen ist es eine schwierige Sache. Über vergangene und aktuelle diesbezügliche Feststellungsbemühungen in Tschechien berichtet im folgenden Radiofeuilleton Thomas Kirschner.
Zum St.-Wenzels-Tag im vergangenen September haben sich die Tschechen schon einmal daran versucht, nationale Bedeutung in Rangfolgen zu pressen. Einer Zeitung war damals eingefallen, dass seit dem Tod des Heiligen Wenzel, des tschechischen Landespatrons, schon ein gutes Jahrtausend vergangen war, das der tschechischen Geschichte womöglich einen wenn schon nicht heiligeren, so doch größeren Wenzel geschenkt haben könnte. Einige von Ihnen, liebe Hörer werden sich vielleicht noch erinnern - wir haben in eben dieser Rubrik darüber berichtet. Das Ergebnis einer ausreichend schrägen Leserumfrage der Tageszeitung Mlada Fronta damals: Wenzel - oder vielmehr auf Tschechisch Vaclav - Havel schlägt seine Heiligkeit, den Landespatron mit deutlichem Vorsprung.
Unter Wenzeln wäre damit also alles klar - was aber ist mit den Pepiks, Honzas, Tondas, Pavliks, und gar den Janas, Evas, Petras und Katkas dieses Landes? Den Bohumils und Drahomiras? Kurzum: Wer ist denn nun der größte Tscheche überhaupt und aller Zeiten? Für solche und ähnliche Fragen eitler Selbsterforschung gab es vor Zeiten noch das Spieglein, Spieglein an der Wand. Das aber ist inzwischen zum Fernseher geworden - und der fragt nun seinerseits gnadenlos zurück: Das tschechische Fernsehen bereitet derzeit eine Sendung vor, in der die Tschechen den Größten ihrer Nation wählen sollen, auf dass man es eben ein für alle mal wisse. Das Vorbild dafür lieferte offensichtlich das deutsche Fernsehen mit einer entsprechenden Wahl zum größten Deutschen. Fachleute und die ganze Nation wogen damals Luther gegen Lübke und Goethes Balladen gegen Adenauers Wiederbewaffnung. Von vornherein ausgeschlossen von der Wahl des größten Deutschen aller Zeiten war allerdings ausgerechnet der größte Führer aller Zeiten, weil einerseits Österreicher und andrerseits nicht sein kann, was nicht sein darf. Das Ergebnis: der Alte von Rhöndorf siegte wie in seinen besten Tagen, Österreich war beleidigt, teils weil mit Mozart doch noch ein Österreicher auf der deutschen Wahlliste stand, teils weil dieser nicht gewonnen hat, und um die Absurdität des ganzen Unternehmens rankte sich eine ebenso amüsante wie interessante Diskussion auf der Suche nach Vorbildern, menschlicher Größe und dem Nationalen überhaupt.Nun also geben sich auch die Tschechen dieser Selbsterforschung in Ranglisten hin - vorerst in nur einem Diskussionsforum auf den Internetseiten des Tschechischen Fernsehens, dort aber durchaus stürmisch: Mehr als 500 Beiträge kamen in den vergangenen vier Wochen zusammen. Da finden sich klassische Vorschläge: Könige, Heerführer, Präsidenten, von Premysl Otakar bis Tomas Garrigue Masaryk. Schriftsteller, Filmschauspieler, Opernstars und häufig auch eine wahre Heroin des böhmischen Lebens, da wo es am empfindsamsten ist, die Urmutter der böhmischen Kochbuchautoren, Magdalena Dobromila Rettigova. Ein Beiträger namens Ferda schlägt provokant Gustav Mahler, Sigmund Freud, Ferdinand Porsche und Karl Kraus als größte Tschechen vor, da sie schließlich allesamt auf tschechischem respektive böhmisch-mährischem Boden geboren sind. Und wie unsicher und verzwickt das Nationale überhaupt sein kann, zeigt das Beispiel von Kaiser Karl IV., bei dem ein informierter Scherzbold darauf aufmerksam macht, dass er unter dieser Titulatur eben Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war und aus tschechischer Sicht eigentlich König Karel I. heißen sollte! Doch die Tschechen wären nicht recht sie selbst, wenn sich aus solcherlei Unbill nicht ein pfiffiger Ausweg finden ließe. Und so gibt es unter allen Diskussionsbeiträgen einen klaren, ja eindeutigen Favoriten: Jara Cimrman, das tschechische Universalgenie per se, das nach langer Vergessenheit in den 60er Jahren vom Theaterduo Sverak und Smoljak wiederentdeckt wurde. In mühsamer Forschungsarbeit gelang zwar bisher noch nicht der zweifelsfreie Beleg, dass Cimrman wirklich gelebt hat, ganz sicher konnten jedoch alle entscheidenden und die meisten unwichtigen Entwicklungen der letzten anderthalb Jahrhunderte auf Cimrman zurückgeführt werden. Kein Zweifel: welcher Tscheche wäre größer als Jara Cimrman. Und so kann man sich nur einem der Diskussionsteilnehmer in der Hoffnung anschließen, dass Kleinigkeiten wie der fehlende letzte Beweis für seine Existenz kein Hindernis sein werden für die Wahl Jara Cimrmans zum größten Tschechen. Denn was letztlich schon wirklich.