Historiker aus Liberec und der Lausitz wollen "Prager Frühling" neu hinterfragen
Das heutige Regionaljournal führt uns in das Dreiländereck der Euroregion Neiße. Dort sind unsere freie Mitarbeiterin Marina Michel und Lothar Martin auf eine beachtenswerte Initiative gestoßen, die dazu beitragen soll, ein dunkles Kapitel der jüngeren Geschichte so aufzuarbeiten, dass es nicht mehr zwischen den Bürgern der hier lebenden drei Nationen stehen wird.
"In Deutschland bekannt geworden ist es eigentlich durch die Umweltbibliothek in Großhennersdorf. Die Umweltbibliothek beschäftigt sich schon seit längerem mit dem Thema ´Prager Frühling´ sowie mit der Untergrundliteratur. Deshalb waren Vertreter der Umweltbibliothek im Sommer 2003 bei der großen Gedenkveranstaltung zum 35. Jahrestag des Prager Frühlings auf dem Reichenberger Marktplatz natürlich auch dabei. Der Leiter der Umweltbibliothek, Andreas Schönfelder, war damals sehr überrascht, als er einen Amateurfilm sah, der vor 35 Jahren gedreht wurde und der zeigt, wie sowjetische Panzer in Liberec einrollen. Außerdem gab es eine Ausstellung in der Reichenberger Bibliothek, bei der Fotos zu sehen waren, die vorher gut versteckt im Archiv des Nordböhmischen Museums gelegen haben, ehe sie dort gefunden wurden. Weiteres Material stammte aus Archiven der tschechoslowakischen Staatssicherheit (StB). Das war alles auf deutscher Seite überhaupt nicht bekannt."
Andreas Schönfelder, der bereits erwähnte Leiter der Umweltbibliothek in Großhennersdorf, bestätigte gegenüber Radio Prag, dass er bei der Reichenberger Gedenkveranstaltung zum 35. Jahrestag des Prager Frühlings die ihn stark bewegenden Dokumente über die Ereignisse vom August 1968 zu sehen bekam:"Es waren alles Fotos, die in der ersten und zweiten Widerstandswoche nach dem Einmarsch der sowjetischen Armee in Liberec und Umgebung gemacht wurden. Und es waren vor allem zwei Filme zu sehen, die zu dieser Zeit gedreht und später aus den Archiven der tschechoslowakischen Staatssicherheit herausgeholt wurden."
Diese Begegnung mit der Vergangenheit in Liberec habe ihn dann über Vieles nachdenken lassen, sagte Andreas Schönfelder. Was ihm dabei offenkundig wurde, das hat er uns so geschildert:
"Wir haben dann später gemerkt, dass der ´Prager Frühling´ eigentlich zweifach im Bewusstsein bzw. Unterbewusstsein der Menschen auf der deutschen Seite geblieben ist. Da sind die einen, die sagen, sie können sich an die Panzergeräusche erinnern, also der Panzer, die in der Nacht vom 20. zum 21. August 1968 über die Grenze gerollt sind. Diese Menschen haben demnach ein sehr undifferenziertes Bild. Es sind eigentlich mehr eine emotionale Figur, die sie noch im Kopf gespeichert haben, sowie der Gedanke, dass da etwas Unrechtes passiert sein dürfte. Die andere Gruppe ist für mich die zweite Generation derer, die in der ehemaligen DDR in der Opposition bzw. im Widerstand waren. Diese zweite Generation hat ihr wichtigstes politisches Sozialisationserlebnis in der Niederschlagung des ´Prager Frühlings´ gehabt. Sie musste erleben, dass ein demokratischer Sozialismus unter diesen Bedingungen nicht möglich ist. Aber man hat diese Idee nicht ad acta gelegt, sondern sich gesagt, es bleibt weiterhin das Ziel, so etwas zu erreichen. Das kann man natürlich heute anders sehen."
Nach diesen in Liberec gewonnenen Eindrücken und den daraus gezogenen Schlüssen stand für Andreas Schönfelder fest, dass er in Zusammenarbeit mit dem Nordböhmischen Museum der Jeschkenstadt eine neue, umfassendere Ausstellung zum Thema "Prager Frühling" konzipieren und vorbereiten werde. Eine Ausstellung, die vor allem seinen deutschen Landsleuten in der Oberlausitz aufzeigen soll, wie nah und länderübergreifend man die Geschichtskapitel des Nachbarlandes heutzutage eigentlich sehen sollte:"Wenn Sie bedenken, dass wir hier in einer Euroregion arbeiten, also in einem Lebensraum, der zunehmend der gemeinsame Lebensraum von Menschen aus drei Nationen werden soll, dann sind wir von solchen Ereignissen natürlich immer stark berührt. Zum einen dann, wenn wir auf der Suche nach entsprechenden Materialien in unserer Region fündig werden und wir damit die ´große Geschichte´ umsetzen können in einer Form des regionalen Lernens. Das ist dann für uns immer wieder die Chance, die Geschichte aus der Anonymität herausholen zu können, um sie gerade jungen Menschen, die diese Zeit ja zum Teil ziemlich schlecht von ihren Eltern oder der jeweiligen Schule überliefert bekommen haben, unverklärt zu offerieren. Und wenn wir dann noch solch einen Partner finden, der so offen und entgegenkommend ist, wie das Nordböhmische Museum, dann haben wir natürlich auch immer wieder genügend Motivation, solche Aufklärungseinheiten zu einem Ende zu bringen. Ja, das gibt uns dann sogar den Auftrieb, um weitere Themen anzugehen."
Marketa Lhotová, die Historikerin des Nordböhmischen Museums in Liberec, bestätigte uns, dass man für dieses Projekt sehr viel Aufwand betrieben habe:
"Es ist bisher das einzige Projekt, das wir gemeinsam erarbeitet haben. Letzten Endes hat sich dieses Projekt als sehr anspruchsvoll erwiesen, so dass wir die Ausarbeitung des Konzepts und Layouts für die Ausstellung erst im Dezember vergangenen Jahres abgeschlossen haben. Wir werden sehen, ob wir auch in Zukunft Themen finden, die wir gemeinsam angehen und erarbeiten werden."Ein solches Thema könnte zum Beispiel die zwielichtige Geschichte von Radio Moldau sein, zu der Marina Michel Folgendes in Erfahrung brachte:
"Radio Moldau hat am 22. Juli 1968 seinen Sendebetrieb aufgenommen, gesendet wurde bis zum 13. Februar 1969. Radio Prag ging ja am 21. September 1969 noch davon aus, dass Radio Moldau ein illegaler Sender der Besatzungstruppen gewesen ist. Heute ist jedoch bekannt, dass Radio Moldau ganz eindeutig ein Produkt der DDR gewesen ist. Der Sender wurde von den kommunistischen Machthabern, und zwar vom ZK der SED ins Leben gerufen. In ihren Augen stellte er eine Art Ausgleich dar für die Tatsache, dass sich die Truppen der Nationalen Volksarmee der DDR nicht unmittelbar an der Okkupation der ehemaligen CSSR beteiligt haben. Der Grund für ihren nicht erfolgten Einmarsch in die Tschechoslowakei ist in der Geschichte zu suchen, denn gerade wegen der jüngeren deutsch-tschechischen Vergangenheit hatte man da so seine Bedenken gehabt."
Auch Andreas Schönfelder bekräftigte, dass dieses und weitere Themen immer noch im Raum und womöglich auch zwischen den Menschen in Tschechien und Deutschland stehen, weil man sie geschichtlich noch nicht aufgearbeitet habe. Daher wollen er und seine Mitarbeiter von der Umweltbibliothek Großhennersdorf auch weiterhin aktiv zur Aufklärung und Vergangenheitsbewältigung beitragen:
"Ja es gibt - das haben wir in den letzten Jahren bei unserer grenzübergreifenden Arbeit gemerkt - immer noch sehr viele Themen, die wenig oder ungenau bearbeitet sind, und die zum Teil auch noch das jeweilige Bild vom Anderen mit Vorurteilen besetzen. Wir sind daher immer auf der Suche nach Themen und Partnern, mit denen wir dann einen Beitrag dazu leisten wollen, dass die von der heutigen jungen Generation in der Schule oder im außerschulischen Bereich gewählten Themen tabufrei bearbeitet werden können. Von unserer Arbeit versprechen wir uns, dass wir bei Allem, was uns (noch) trennt, im Dialog zumindest soweit kommen, dass wir die Meinung des Anderen stets respektieren. Darüber hinaus wollen wir aber auch Verbindendes kenntlich machen und insbesondere dafür sorgen, diese Themen soweit bearbeitet zu haben, dass sie uns nicht mehr den Blick verstellen auf dem Weg in eine gemeinsame Zukunft."
Ein erster gemeinsamer Schritt dazu soll die bereits mehrfach erwähnte Ausstellung zum "Prager Frühling" sein. Es ist geplant, diese Ausstellung am 20. August dieses Jahres in der Zittauer Johanniskirche zu eröffnen.