Die tschechoslowakische Verfassung von 1920
85 Jahre ist es nun her, seit die erste tschechoslowakische Verfassung am 29. Februar 1920 verabschiedet worden ist. 18 Jahre war sie in Kraft, wie Sie im nun folgenden Kapitel aus der tschechischen Geschichte unter anderen Katrin Bock erfahren können.
"Das Volk ist die einzige Quelle aller Staatsgewalt in der tschechoslowakischen Republik."
So lautet der erste Satz der tschechoslowakischen Verfassung, die am 29. Februar 1920 von der revolutionären Nationalversammlung in Prag verabschiedet wurde. Die damaligen Parlamentarier scheinen von ihrer historischen Aufgabe mehr beflügelt gewesen zu sein als ihre heutigen Kollegen. Drei Tage wurde damals fast ununterbrochen über die neue Verfassung debattiert. Gegen drei Uhr morgens wurde sie schließlich verabschiedet. Eine halbe Stunde später wurde die Sitzung für beendet erklärt und die Parlamentarier konnten endlich nach Hause gehen. Es scheint, dass sie gute Arbeit geleistet haben, denn die Verfassung blieb bis 1938 ohne Veränderungen in Kraft. Erst die internationale Entwicklung und das Münchner Abkommen vom September 1938, das die Abtretung der überwiegend von Deutschen bewohnten Grenzgebiete der Tschechoslowakei an Deutschland zum Inhalt hatte, führten zu Verfassungsänderungen. Endgültig außer Kraft gesetzt wurde die erste tschechoslowakische Verfassung im Mai 1948, nachdem die Kommunisten drei Monate zuvor die Macht in der Tschechoslowakei übernommen hatten.
"§ 3. Das Gebiet der tschechoslowakischen Republik bildet ein einheitliches und unteilbares Ganzes, dessen Grenzen nur durch ein Verfassungsgesetz abgeändert werden können."
So selbstverständlich dieser Paragraph der tschechoslowakischen Verfassung von 1920 zu sein scheint, so schwierig war zunächst die Bildung eines einheitlichen Gebiets. Als am 28. Oktober 1918 in Prag die Unabhängigkeit der Tschechoslowakei ausgerufen wurde, entstand ein Staat, der noch keine Grenzen hatte. Jahrhunderte lang waren die Böhmischen Länder Bestandteil der Habsburger Monarchie gewesen. Allein die Vorstellung, dass ein unabhängiger Staat der Tschechen und Slowaken überhaupt existieren könnte, war einige Monate zuvor noch völlig utopisch. Und so herrschte einige Unklarheit darüber, in welchen Grenzen der neue Staat entstehen sollte. Die Tschechen gingen davon aus, dass auf der Friedenskonferenz in Paris das historische Gebiet des Königreiches Böhmen respektiert wird. Die innerhalb dieser Grenzen lebenden rund drei Millionen Deutschen waren allerdings anderer Meinung und wollten zum neu entstehenden Deutschösterreich gehören.Auf der Pariser Friedenskonferenz wurden schließlich die Forderungen der Tschechen erfüllt - die Tschechoslowakei erhielt im Westen die historischen Grenze den böhmischen Königreiches - drei Millionen Deutsche wurden zu ihren Bürgern.
"Wir, das tschechoslowakische Volk, haben, von dem Wunsch beseelt, die vollständige Einheit des Volkes zu befestigen, gerechte Normen in der Republik einzuführen, die ruhige Entwicklung der tschechoslowakischen Heimat sicherzustellen, dem allgemeinen Wohle aller Bürger dieses Staates zu nützen und die Segnungen der Freiheit künftigen Generationen zu sichern, in unserer Nationalversammlung am 29. Feber 1920 die Verfassung für die Tschechoslowakische Republik angenommen, deren Wortlaut folgt."Die Präambel der tschechoslowakischen Verfassung verweist eindeutig darauf, wer diese verfasst hat: Tschechen und Slowaken. Diese betrachteten sich in dem entstandenen Vielvölkerstaat als Staatsnation. Deutsche, Ungarn und Polen waren nicht an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt gewesen.
Anfang November 1918 war es zu einer ersten offiziellen Kontaktaufnahme zwischen tschechischen und deutschböhmischen Politikern gekommen. Dabei ging es 0nicht nur um die Lösung dringender Probleme, wie die Versorgungslage der Bevölkerung, sondern auch um die Gestaltung des zukünftigen Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen sowie die mögliche Beteiligung der Deutschen am Staatsaufbau und damit an der Formulierung der Verfassung. Die Verhandlungen scheiterten jedoch gleich nach ihrem Beginn an der mangelnden Kompromissbereitschaft beider Seiten. Dies hatte weit reichende Folgen, denn es kam zu keinen weiteren offiziellen Treffen zwischen tschechischen und deutschen Politikern. Die Chance, gemeinsam eine Verfassung auszuarbeiten, war ein für alle mal vertan.
Und so fehlten am 14. November 1918, als sich im Prager Rudolfinum die revolutionäre Nationalversammlung versammelte, Vertreter der nationalen Minderheiten. Die Nationalversammlung war nicht aus Wahlen hervorgegangen. Politische Parteien hatten entsprechend der Ergebnisse der letzten Vorkriegswahlen von 1911 ihre Vertreter entsandt. Die Hauptaufgabe der 204 Tschechen und 50 Slowaken war es, eine Verfassung auszuarbeiten und freie Parlamentswahlen vorzubereiten."§ 2. Der tschechoslowakische Staat ist eine demokratische Republik, deren Haupt der gewählte Präsident ist."
In ihrer ersten Sitzung erklärten die Abgeordneten die Habsburger Monarchie für abgesetzt und wählten einstimmig Tomas Masaryk zum ersten tschechoslowakischen Präsidenten. Zudem wurde eine vorläufige Regierung gewählt. Dann machten sich die 254 Männer an ihre Hauptaufgabe: die Formulierung einer Verfassung. Als Vorbild dienten die US-amerikanische und die französische Verfassung.
Über ein Jahr wurde an der Ausarbeitung der Verfassung in den verschiedensten Ausschüssen gefeilt, bis sie im Februar 1920 der revolutionären Nationalversammlung zur Verabschiedung vorgelegt wurde. Nach einer dreitätigen Sitzung, die fast ohne Unterbrechung vom 27. bis 29. Febrauar dauerte, wurde sie schließlich gegen drei Uhr morgens am 29. Februar verabschiedet.
"§ 128. (1) Alle Staatsbürger der Tschechoslowakischen Republik sind vor dem Gesetze vollständig gleich und genießen gleiche bürgerliche und politische Rechte, ohne Rücksicht darauf, welcher Rasse, Sprache oder Religion sie sind."
Einer der Hauptstreitpunkte der dreitätigen, zum Teil heftigen und emotionellen Debatte war die Sprachregelung. An dieser war in der Habsburger Monarchie nicht nur eine Regierung gescheitert. Nun mussten die Tschechen und Slowaken eine für alle Minderheiten zufrieden stellende Lösung finden, wobei sie aber Wert darauf legten, dass in allen Landesteilen das Tschechoslowakische die offizielle Amtssprache sei. Neben 6,8 Millionen Tschechen und 1,9 Millionen Slowaken lebten über 3 Millionen Deutsche, rund 750.000 Ungarn, 460.000 Karpathoukrainer und 75.000 Polen in der Tschechoslowakei.
Im ersten Paragraphen des ebenfalls am 29. Februar 1920 verabschiedeten Sprachgesetzes heißt es:
"Die tschechoslowakische Sprache ist die staatliche, offizielle Sprache der Republik."
Das Sprachengesetz wurde in den folgenden Jahren von den Minderheiten, insbesondere der deutschen, scharf kritisiert, da von allen Beamten die Beherrschung der tschechischen bzw. slowakischen Sprache gefordert wurde.
Nach der Verabschiedung der Verfassung hatte die revolutionäre Nationalversammlung, die von niemandem gewählt worden war, ihre Aufgabe eigentlich erfüllt. Doch bis zu den ersten Parlamentswahlen am 18. April 1920 verabschiedete sie zahlreiche weitreichende Gesetze, wie das über die Bodenreform, die Staatsbürgerschaft, die Wahl des Präsidenten und die Notstandsgesetze. Es scheint, dass die Tschechen diese wichtigen Gesetze noch ohne die Beteiligung der nationalen Minderheiten verabschieden wollten.