Januar 1969: Vorgeschichte der tschecho-slowakischen Trennung
Am 1. Januar 1993 hat sich die Tschechoslowakei in zwei selbständige Staaten geteilt. Nach 75 Jahren ihres Bestehens und nur drei Jahre nach der politischen Wende war dies für viele Menschen hierzulande, insbesondere aber für einen Großteil der Tschechen, unbegreiflich und unerwünscht. Bis heute ist allerdings wenig bekannt, dass die sogenannte „slowakische Frage“ schon in den 1960er Jahren in den politischen Vordergrund drängte. Das Resultat war vor 45 Jahren die Entstehung einer Föderation der Tschechen und Slowaken.
Bei seinen seltenen Visiten in der Slowakei wich Novotný zwar nie der Frage nach den tschechisch-slowakischen Beziehungen aus. Seine Antworten formulierte er allerdings starr dogmatisch, so etwa im Juni 1963 bei seinem Besuch in der ostslowakischen Stadt Košice:
„Mit dem Sieg der Arbeiterklasse im Februar 1948 wurde die Frage der Koexistenz von Tschechen und Slowaken im Sinne ihrer Gleichberechtigung politisch gelöst. Damit wurden die Voraussetzungen für eine allmähliche faktische Gleichstellung beider Völker geschaffen, begründet auf der Bewältigung von aus der Vergangenheit herrührenden ökonomischen Unterschieden. Diese Gleichstellung fußt darauf, das Lebens- und Kulturniveau der slowakischen Bevölkerung an das der Menschen in den Böhmischen Ländern anzugleichen.“ Wenn Novotný nicht bemüht war, ideologische Phrasen zu dreschen, dann zeichnete er ein beinahe idyllisches Bild des Zusammenlebens:„So wie Tschechen in der Slowakei leben, insbesondere hier in Eurer Region, leben auch Slowaken in Böhmen. Slowaken heiraten Tschechinnen, Tschechen Slowakinnen. Entstehen daraus irgendwelche Probleme, Genossen? Nein, keine! Die einen lernen Tschechisch, die anderen wiederum Slowakisch. Und das hilft uns allen.“
Während der Rede Novotnýs in jovialem Tonfall war Protest aus dem Plenum zu vernehmen. Der frisch gewählte Vorsitzende der slowakischen Kommunisten, Alexander Dubček rief ihm laut zu, dass es aber doch „gewisse Probleme“ gebe. Für Novotný war es wahrscheinlich die erste kritische Stimme überhaupt, die er aus den Reihen der Gleichgesinnten zu hören bekam. Der Gast aus Prag setzte aber seine Ausführungen fort. Die abschließende Feststellung, man lebe „in voller Harmonie“ miteinander, rundete er mit einer rhetorischen Frage ab: „Wer möchte schon irgendwelche nationalistischen Probleme hervorrufen?“
Wesentlich anders als das Treffen mit slowakischen Genossen in Košice verlief die Tagung des Zentralkomitees der Partei 1967. Dies beschreibt der Politologe und ehemalige Politiker Petr Pithart in seinem Buch „(Das Jahr) 1968“. Der Christdemokrat war im Übrigen der erste Premier der Tschechischen Teilrepublik im Rahmen der Tschechoslowakischen Föderation. Was geschah also 1967?„Entgegen dem wie üblich im Voraus festgelegten Programm bat unerwartet der slowakische Parteichef Alexander Dubček ums Wort. Energisch kritisierte er, dass bei der Tagung ein anderes als das zur Debatte bestimmte Dokument vorgelesen worden sei. Auch die zur Billigung vorgelegte Entschließungsvorlage unterscheide sich von der, die im Präsidium des ZK der KPTsch verhandelt worden sei. Als Urheber der ‚Machenschaften‘ bezeichnete Dubček den Ersten Sekretär der Partei, Antonín Novotný. Dubček zeigte aber noch mehr Courage, indem er sich beschwerte, die Slowakei hätte kontinuierlich wirtschaftlichen Schaden zugunsten der böhmischen Länder zu erleiden. Seine Behauptung untermauerte Dubček mit statistischen Zahlen.“
Daraufhin habe Antonín Novotný die Nerven verloren und voller Bosheit reagiert, schreibt Pithart:„Die Slowaken mögen sich ruhig verselbständigen und eine Föderation bekommen. Sie mögen auch selbst wirtschaften, allerdings nur und allein auf Basis der Eigenfinanzierung. Er persönlich sei dagegen, aber bitteschön, wenn dies der Wunsch der Slowaken sei!“
Dubčeks Kritik bezeichnete Novotný als einen Ausdruck des bourgeoisen Nationalismus. Ähnlich stufte er die Vertreter der respektierten slowakischen Kulturinstitution „Matica slovenská“ ein, als er im selben Jahr deren Sitz in der westslowakischen Stadt Martin besuchte. Es war nicht der einzige politische Fauxpas, den sich der Staatspräsident und Parteichef bei seinen Aufenthalten in der Slowakei erlaubte. Doch dieser brachte das Fass zum Überlaufen. Auf der nächsten ZK-Plenartagung im Dezember 1967 stellten sich ausnahmslos alle slowakischen Genossen gegen Novotný. Ihnen schlossen sich auch reformorientierte tschechische Mitglieder des ZK an. Anfang Januar 1968 wurde Novotný durch Alexander Dubček im Amt des Parteichefs abgelöst. Im März folgte sein Rücktritt vom Posten des Staatspräsidenten. Petr Pithart spricht diesem Erdbeben innerhalb der KPTsch große Folgen zu:
„Ohne die Slowaken hätte es keinen ‚Prager Frühling‘ gegeben. Vielleicht wäre die Liberalisierungsbewegung ein oder zwei Jahre später gekommen, dann hätte sie allerdings einen anderen Verlauf gehabt. Die Initialzündung für den Prager Frühling waren in der Tat die Kontroversen zwischen Slowaken und Tschechen im Zentralkomitee der KPTsch.“Und es war auch ein Startschuss zum nachfolgenden Tauziehen zwischen den Reformern und den Hardlinern in der Partei. Die gab es sowohl auf der tschechischen als auch auf der slowakischen Seite. Die Prioritäten waren jedoch unterschiedlich gewichtet. Den tschechischen Reformern lag vor allem an einer schnellen Demokratisierung des gesellschaftspolitischen Systems, während die Slowaken auf eine neue staatsrechtliche Gestaltung drängten. Sie wollten eine Föderation zweier Teilrepubliken mit eigenen Kompetenzen. Das politische Tauwetter von 1968 beschleunigte den Prozess der slowakischen Emanzipationsbestrebungen. Petr Pithart:
„Die Idee der Föderalisierung fand diesmal Unterstützung auch auf der tschechischen Seite. Seit Februar 1948 hatte sie als Tabu gegolten. Öffentlich gebrochen wurde dies aber schon im März 1967 bei einer Fernseh-Debatte. Für mich war es der erste öffentliche Auftritt. Vor dem Beginn der Fernsehsendung waren alle Diskussionsteilnehmer aufgeregt, weil erstmals vor Publikum über eine Föderalisierung der Tschechoslowakei diskutiert werden sollte. Mit von der Partie war auch Gustáv Husák.“Das Motto des slowakischen Politikers und überzeugten Verfechters des Reformkurses in der Tschechoslowakei lautete: „Zunächst die Föderalisierung, dann die Demokratisierung“. Am 21. März 1968 sprach Husák Journalisten im Prager Radiopalast über die „slowakische Frage“:
„Wir haben so eine Art ‚Symmetrie‘ erreicht: Das tschechische Volk hat keine nationalen Organe, das slowakische Volk hat sie zwar, allerdings ohne jegliche Kompetenzen. Sie dienen lediglich als Kulisse. Deswegen befinden wir uns heute in Bezug auf die nationale Frage dort, wo wir uns schon 1945 befunden haben. Wir müssen also von neuem beginnen und diskutieren. Es ist schwer, sogar unangenehm für unsereins aus der Slowakei, dieses Thema immer wieder nur einseitig zur Sprache zu bringen. Jedes Volk hat seinen Stolz. Die Tschechen sind ein stolzes Volk, und das mit Recht. Aber Genossen, auch das slowakische Volk ist stolz. Es will nicht die Rolle eines Bittstellers oder eines Untermieters spielen. Wenn es schon Deklarationen gibt, dass wir zwei gleichberechtigte Völker seien, müssen sie auch in der Praxis umgesetzt werden. Versuchen Sie dies auch nachzuvollziehen.“ Dazu kam es in der Folge auch – nicht einmal die Okkupation des Landes durch die Streitkräfte der Warschauer Paktstaaten im August 1968 konnte dies verhindern. Am 27. Oktober desselben Jahres verabschiedete die Nationalversammlung eine Verfassungsänderung. Damit wurde die „Tschechoslowakische Sozialistische Republik“ in eine Föderation der „Tschechischen Sozialistischen Republik“ und der „Slowakischen Sozialistischen Republik“ transformiert. Die Änderung trat am 1. Januar 1969 in Kraft. Zur Demokratisierung, die darauf noch folgen sollte, kam es aber nicht. Bis 1989 waren wieder die Hardliner an der Macht. Dies war allerdings auch die Schuld des neuen Generalsekretärs der Partei und späteren Staatspräsidenten Gustáv Husák.