Studieren im Nachbarland? Für Slowaken in Tschechien der Alltag

Über 20.000 Studierende aus der Slowakei gehen gegenwärtig in Tschechien auf eine Hochschule. Aber was motiviert junge Menschen aus dem Nachbarland für das Studium in Prag, Brno / Brünn oder weiteren Universitätsstädten? In welcher Sprache müssen Abschlussarbeiten verfasst werden? Und kann man in Tschechien eigentlich auch Slowakistik studieren? Das erfahren Sie in einem Beitrag aus unserer aktuellen Serie „Tschechen und Slowaken – 30 Jahre nach der Trennung“.

Sebastián Šulík | Foto: Archiv von Sebastián Šulík

Sebastián Šulík studiert Regie an der Prager Filmakademie Famu. Der junge Slowake hatte eine besondere Motivation, für das Studium nach Tschechien zu gehen:

„Mein Vater unterrichtet an einer Hochschule in Bratislava. Um Interessenskonflikte zu vermeiden, habe ich beschlossen, in Prag zu studieren. Außerdem hat die Famu einen guten Ruf.“

Soweit Sebastián Šulík, dessen Vater Martin Šulík nicht nur Uni-Dozent, sondern auch Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur ist. Es habe zudem noch weitere Gründe für Prag gegeben, sagt Sebastián im Interview für Radio Prag International:

„Ich habe auch über andere Optionen nachgedacht. Da die tschechische Kultur und die Sprache für einen Slowaken aber sehr nahe sind und wir eine gemeinsame Geschichte in einem Staat teilen, erschien mir Prag der effektivste Weg zu sein.“

Für den jungen Studenten war der Gang ins Nachbarland dabei nicht der erste Berührungspunkt mit Tschechien.

Československo - Česko-Slovensko - Tschechoslowakei | Foto: Archiv von Kartografie Praha

„Ich bin mit tschechischem Fernsehen und tschechischen Büchern aufgewachsen. Zu der Kultur des Landes hatte ich irgendwie immer schon eine enge Verbindung. Ich denke, dass das vielen jungen Leuten in der Slowakei so geht. Deshalb gehen sie ja zum Studieren auch etwa nach Brünn.“

Sieben Prozent Slowaken an der Karlsuniversität

Markéta Martínková | Foto: Fakultät für Naturwissenschaften,  Karlsuniversität

Dass es zahlreiche slowakische Studienanfänger nach Tschechien zieht, weiß auch Markéta Martínková zu berichten. Sie ist Prorektorin für Studienangelegenheiten an der wichtigsten Prager Universität:

„An der Karlsuniversität sind derzeit über 3800 Studenten aus der Slowakei eingeschrieben. Insgesamt haben wir über 50.000 Studierende. Slowakische Staatsbürger machen an unserer Universität, die eine von 26 öffentlichen Hochschulen in Tschechien ist, also sieben Prozent aus.“

Während in den Bachelorstudiengängen dabei circa fünf Prozent der Studenten die slowakische Staatsangehörigkeit haben, liegt der Anteil bei den Doktoratsprogrammen mit zehn Prozent am höchsten.

Ein Problem stelle im Lehrbetrieb trotz der großen Nähe mitunter der sprachliche Unterschied zwischen dem Tschechischen und dem Slowakischen dar, beschreibt Martínková:

„Auf Grundlage eines Memorandums zwischen Tschechien und der Slowakei waren beide Sprachen bis zum 26. Januar 2012 gleichgestellt. Seitdem ist das Slowakische an den Universitäten hierzulande aber eine Fremdsprache wie jede andere auch.“

Karlsuniversität in Prag | Foto: Khalil Baalbaki,  Tschechischer Rundfunk

In den meisten Fällen würden die Studierenden aus dem Nachbarland gut mit ihrer Muttersprache durchkommen, meint Martínková.

„Da viele Dozenten die Sprache relativ gut verstehen, werden slowakische Antworten in schriftlichen Prüfungen oft toleriert. Dies geschieht aber nicht auf Grundlage einer Verpflichtung des tschechischen Lehrpersonals, sondern wegen des guten Willens der Dozenten. Je jünger die Pädagogen aber sind, desto weniger verstehen sie Slowakisch. Der Sprachunterschied kann so zu einem Hindernis werden.“

Außerdem stoße die Großzügigkeit der Dozierenden oft bei Abschlussarbeiten an ihre Grenzen…

„Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass die Lehrbeauftragten den slowakischen Studierenden eher empfehlen, die Arbeit in einer Weltsprache abzufassen, also etwa auf Englisch. Auf Slowakisch wird nur sehr wenig geschrieben. Aber auch diese Fälle gibt es. Die Dozenten achten dann zumeist darauf, dass der Anteil slowakischer Abschlussarbeiten einen bestimmten Grenzwert nicht übersteigt. Erlaubt werden solche Fälle vor allem, wenn der Betreuer der Arbeit selbst Slowake ist oder die Sprache spricht. Zudem muss ein Zweitprüfer gefunden werden, der Slowakisch versteht, denn auch er muss die Arbeit bis ins Detail verstehen.“

Wenn die Abschlussarbeit von den Slowaken auf Tschechisch verfasst werden muss, greifen die Studierenden mitunter auf ihre Kollegen zurück, berichtet Martínková:

„Als Leiterin des Fachbereichs Biochemie weiß ich, dass viele slowakische Studenten ihre tschechischen Kommilitonen aus dem Labor bitten, die Texte zu korrigieren und einige Formulierungen glattzuschleifen. Am Ende findet sich meist eine Lösung.“

Slowakistik möchte in Prag kaum jemand studieren

Marian Sloboda | Foto: Olga Vasinkevich,  Radio Prague International

Mit der Trennung der Tschechoslowakei und dem Studium im jeweiligen Nachbarland verbunden ist auch die Lebensgeschichte von Marián Sloboda. Er lehrt am Institut für Mitteleuropäische Studien der Karlsuniversität. Im Interview mit Radio Prag International beschreibt er:

„Ich wurde in Prag geboren, aber meine Eltern stammen beide aus der Slowakei. Mein Vater kam für das Studium an der Technischen Hochschule ČVUT nach Prag, und meine Mutter zog mit ihren Eltern hierher, weil ihr Vater in Tschechien Arbeit gefunden hatte. Das war damals in der Tschechoslowakei eine typische Familiengeschichte.“

Nach der Trennung der beiden Staaten nahm Slobodas Familie die tschechische Staatsbürgerschaft an. Ausländer im eigenen Land sein wollten sie nicht. Dennoch sei die eigene Identität in seiner Kindheit und Jugend für Marián Sloboda oft ein Problem gewesen…

Wörterbuch verschiedener tschechisch-slowakischer und slowakisch-tschechischer Ausdrücke

„Für die Tschechen war ich immer der Slowake, und wenn ich dann einmal in die Slowakei gefahren bin, war ich dort der Tscheche. Für mich war das natürlich immer schwierig. Heutzutage geht es hierzulande vielen jungen Menschen aus vietnamesischen Familien ähnlich. Das Identitätsproblem hat mich aber irgendwann nicht mehr gestört. Denn ich habe herausgefunden, dass ich eben Tscheche oder Slowake bin, je nach Situation. Man nennt das ‚situative Ethnizität‘. Das ist eben heute meine Identität, und ich sehe das nicht mehr als einen Mangel an. Dazu beigetragen hat auch die Feststellung, dass es in Prag über 20.000 solcher Fälle gibt wie mich.“

Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen beiden Ländern und den Sprachen sind für Marián Sloboda mittlerweile Berufsalltag. Denn zunächst studierte Sloboda Slawistik und Linguistik, und heute kümmert er sich am Institut für Mitteleuropäische Studien unter anderem um die Studierenden der Slowakistik. Doch das Interesse an dem Studienfach halte sich in Grenzen, sagt der promovierte Soziolinguist:

„Es gibt ein paar Studenten, die sich nicht für die Sprache interessieren, sondern für die slowakische Literatur oder die Geschichte. Das Gesamtinteresse ist aber nicht sonderlich groß. Und das darf auch nicht überraschen: Die Slowakei ist für Tschechen kein sonderlich interessantes Land. Als junger Mensch hat man hierzulande kaum das Gefühl, dass es dort etwas Spannendes zu erforschen gibt.“

Tschechen und Slowaken treffen sich traditionell in Velká Javorína in den Weißen Karpaten | Foto: Vojtěch Berger,  Tschechischer Rundfunk

Es gäbe verschiedene Gründe, warum sich dann doch jemand für das Studium des Slowakischen in Tschechien entscheide:

„Bei uns bewerben sich zum Beispiel Absolventen von touristisch ausgerichteten Mittelschulen. Sie wollen dann in der Slowakei in der Reisebranche tätig sein. Manche kommen auch, weil sie sich für slowakische Musik interessieren – etwa für Rap, bei dem die Sprache ja eine große Rolle spielt. Einige haben auch Verwandte in der Slowakei. Die Gründe, sich der Slowakistik zu widmen, sind also ganz verschieden.“

Ironischerweise würden aber die meisten der Studierenden nicht aus Tschechien kommen… „Die meisten unserer Studenten sind Slowaken, die in Prag Slowakistik studieren möchten. Das ist schon wirklich bemerkenswert“, sagt Marián Sloboda.

Autoren: Ferdinand Hauser , Anna Fodor , Olga Vasinkevič , Elena Vedere
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