Leben im tschechisch-slowakischen Grenzgebiet nach 30 Jahren

Tschechisch-slowakische Grenze

Die Tschechoslowakei wurde vor 30 Jahren geteilt, und es entstanden zwei neue Staaten. Wie hat sich die Entstehung der beiden selbständigen Republiken auf das Leben in Gemeinden ausgewirkt, die direkt an der Grenze zwischen Tschechien und der Slowakei liegen? Redakteure von Radio Prag International haben vor Ort nach Antworten gesucht. Mehr erfahren Sie von Martina Schneibergová in der dritten Folge unserer Serie zur Teilung der Tschechoslowakei.

Weiße Karpaten  | Foto: Jiří Komárek,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 4.0 DEED

Sidonie liegt inmitten der Weißen Karpaten. In die einstige Glasmachergemeinde führt nur eine schmale Straße über den Vlárský průsmyk / Wlarapass. Bei der Teilung der Tschechoslowakei vor 30 Jahren sollte der Bach Vlárka, der durch den Ort fließt, die Grenze zwischen den neuen Staaten bilden. Die Bewohner der Gemeinde hatten jedoch Häuser auf beiden Seiten des Bachufers. Schließlich wurde entschieden, dass die ganze Ortschaft in Tschechien bleibt. Sidonie gehört zur Stadt Brumov-Bylnice. Deren Bürgermeister Jaroslav Vaněk (Bezap) sagt, es gebe immer noch einige grenzüberschreitende Fragen, die gelöst werden müssten:

Jaroslav Vaněk | Foto:  Guillaume Narguet,  Radio Prague International

„Angeblich befinden sich auf unserer Seite noch slowakische Grundstücke. Tschechische Bürger, die auf diesen bauen wollen, brauchen die Zustimmung der slowakischen Nachbarn. Nachdem die Nachbarn nicht geantwortet hatten, fuhren die Bauherren nach Bratislava und fragten die Behörden nach ihrem Standpunkt. Dort soll man ihnen geantwortet haben: ,Lassen Sie die Papiere hier, wir werden Ihnen antworten.‘ Bis heute ist nichts passiert. In unserem Ort fehlt die Kanalisation. Es schmerzt, dass dies in den 30 Jahren seit der Teilung nicht nachgeholt wurde. In Sidonie gibt es kein Geschäft mehr, und die Gaststätte macht im Winter nur noch am Wochenende auf. Die Lebensqualität ist nicht so hoch, wie wir uns das wünschen.“

Ein weiteres Problem sind die Mobilfunkverbindungen. Im Tal, in dem Sidonie liegt, ist kein Handyempfang möglich.

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Nur die ältere Generation ist nostalgisch

Pavel Mašláň | Foto:  Guillaume Narguet,  Radio Prague International

Für die Bewohner des Grenzortes ist die Nähe zur Slowakei eine ganz normale Sache. Die Familien- und Arbeitsbeziehungen sind geblieben. Doch es sind eher die Älteren, die sich auch heute noch nach der Tschechoslowakei sehnen. Für jüngere Menschen seien die beiden neuen Staaten bereits eine unverrückbare Tatsache, erzählt Pavel Mašláň. Der Historiker arbeitet im Museum der Mährischen Walachei in Vsetín, wohnt jedoch in Sidonie.

„Für junge Menschen ist die Slowakei ein fremder Staat. Was die hiesige Umgebung betrifft, ist es kein Problem, in die Slowakei zum Einkaufen oder im Sommer zum Baden zu fahren. Junge Leute fahren dorthin, betrachten es aber als Ausland.“

Renata Hudečková aus Brumov-Bylnice widerspricht in diesem Punkt aber dem Historiker. Die Kosmetikerin hat die Tschechoslowakei nicht erlebt. Vier Jahre lebte sie in Paris, kehrte dann aber in ihre mährische Heimat zurück:

„Ich liebe es hier sehr. Mähren finde ich herrlich. Aber die Slowakei empfinde ich nicht als fremden Staat. Ich sehe da keinen Unterschied zu Tschechien, vielleicht aus dem Grund, weil ich die Tschechoslowakei nicht kennengelernt habe. Wir sind einfach Freunde – die Tschechen und die Slowaken. Es gibt da keinerlei Feindschaft.“

Renata Hudečková | Foto:  Guillaume Narguet,  Radio Prague International

Nach der Teilung der Tschechoslowakei befanden sich einige Häuser von Sidonie auf slowakischem Gebiet. Es habe einige Jahre gedauert, das Problem zu lösen, so der Historiker:

„Es handelte sich damals um zwölf Häuser. Ihre Bewohner hatten die tschechische Staatsbürgerschaft und wollten in der Tschechischen Republik bleiben. Bei der Fahrt durch das Tal muss man den Bach, der die Grenze zwischen den beiden Staaten bildet, an einigen Stellen über Brücken überqueren. Die Grenzführung wurde damals der Situation angepasst. Grundstücke mit Häusern auf der anderen Seite des Bachs, die schon damals den Bewohnern von Sidonie gehörten, wurden Tschechien zugeschlagen. Viele Menschen aus Sidonie fuhren in die Slowakei zur Arbeit. Denn dort liegen größere Städte in der Nähe wie Dubnica und Trenčín, und damit gab es auch mehr Arbeitsgelegenheiten. Hier haben tschechisch-slowakische Familien gelebt. Als aber die Grenze entstand, gab es auf einmal Zöllner und Grenzpolizisten, die begannen, Kontrollen durchzuführen. Hinzu kamen die Unterschiede in den Steuern und Gebühren. Das war unangenehm.“

Später kam es zum Austausch der bebauten Grundstücke. Gelöst wurde das Problem 1996, als die sogenannten Abkommen von Židlochovice geschlossen wurden. Bis heute fahren viele Tschechen zur Arbeit in die Slowakei, sie haben dort Verwandte, und die Slowaken ziehen wiederum nach Tschechien. Dem Historiker zufolge ist Sidonie hauptsächlich im Sommer ein beliebtes Ziel von Radwanderern. Aus der Slowakei führt ein Radweg in Richtung Sidonie.

Foto: Radio Prague International

Nach der Teilung der Tschechoslowakei setzten sich die Bewohner der Grenzgemeinde auch mit finanziellen Fragen auseinander. Dazu gehörte beispielsweise die Anerkennung der Renten. Františka Bařinková hat in diesem Bereich negative Erfahrungen gemacht.

„Bis heute wurde das hier nicht vollständig gelöst. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind gut – so wie vor der Teilung. Diejenigen, die in der Slowakei arbeiteten, sind vergleichsweise benachteiligt. Der tschechische Staat stockt Rentnerinnen, die Kinder haben, ihre Altersbezüge um 500 Kronen je Kind auf. Ich war in Tschechien nie angestellt, weil es nach Srní in der Slowakei näher war. Darum habe ich keinen Anspruch auf eine solche Aufstockung der Rente.“

Und vor dem EU-Beitritt musste Františka Bařinková die Krankenversicherung doppelt bezahlen – in Tschechien und in der Slowakei.

„Aber in der Slowakei bin ich nie zum Arzt gegangen. Im finanziellen Bereich gab es wirklich mehrere Probleme.“

Referendum im Grenzort U Sabotů

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U Sabotů | Foto: ČT24

Genauso wie in Sidonie kam es auch im Grenzort U Sabotů zum Austausch von Grundstücken. Die Mehrheit der rund 130 Bewohner dort unterstützte in einem Referendum nach der Teilung der Tschechoslowakei den Anschluss an die Slowakei. Der Ort sei heutzutage Bestandteil der slowakischen Gemeinde Vrbovce, erzählt ihr Bürgermeister Dušan Eliáš:

„Bei der Teilung der Tschechoslowakei wurde ein Teil der mährischen Gemeinde, die offiziell Javorník U Sabotů hieß und direkt an der Grenze lag, unserer Gemeinde Vrbovce angeschlossen. Ich war damals 15 Jahre alt. Nach der Teilung gab es Probleme am hiesigen Grenzübergang, über den LKWs fuhren. Oft bildeten sich dort mehrere Kilometer lange Schlangen. Wir aus dem Grenzgebiet hatten nie einen Grund, uns von Tschechien zu trennen. Bis heute fühlen sich viele von uns als Tschechoslowaken. Die hiesigen Familien waren eng mit Mähren verbunden. Wir haben uns oft gegenseitig besucht.“

Dušan Eliáš | Foto: Guillaume Narguet,  Radio Prague International

Einige Bewohner von Javorník U Sabotů haben damals den Anschluss an die Slowakei nicht unterstützt. Sie haben laut Bürgermeister Eliáš lieber ihre Häuser verkauft und neue auf tschechischem Gebiet gebaut.

„Vom Staat wurde ihnen damals eine finanzielle Unterstützung ausgezahlt. Niemand nahm es ihnen übel, dass sie weg wollten. Und diejenigen, die geblieben sind, waren davon überzeugt, dass es vernünftig war, auf slowakischer Seite zu leben. Oder sie haben sich hoffentlich mit der Zeit damit abgefunden.“

Die Gemeinde Vrbovce ist zudem aktiv in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.

„Unsere wichtigste Partnergemeinde befindet sich nahe Hodonín. Sie heißt Vrbice, es ist eine Winzergemeinde. Als wir nach einer Partnergemeinde suchten, gefiel uns, dass der Name ähnlich wie Vrbovce klingt. Wir haben viele gemeinsame Kulturprojekte ins Leben gerufen, die sich auf Volkskunst konzentriert haben. Beispielsweise haben wir gemeinsame Töpferwerkstätten organisiert.“

Was denkt Dušan Eliáš heute über die Teilung der Tschechoslowakei, die er als 15-Jähriger erlebt hat?

„Wir schätzen es sehr, dass wir Slowaken sozusagen unser eigenes Haus haben, in dem wir wirtschaften können. Aber wir haben das Haus unseres Bruders verlassen. Ich empfinde dies so und bin davon überzeugt, dass auch viele andere Slowaken dies genauso empfinden.“

Vrbovce | Foto: Guillaume Narguet,  Radio Prague International

Ähnlich äußert sich auch der Historiker Pavel Mašláň aus dem tschechischen Dorf Sidonie:

„Ich glaube, dass die Teilung wahrscheinlich richtig war, wenn man sieht, wie die Politiker manchmal streiten. Und in der Slowakei geht es dabei bedeutend wilder zu. Ohne die Teilung hätten die Populisten einen Vorwand gehabt, nationalistische Stimmungen anzufachen. Es ist besser, wenn jeder Staat für sich selbst entscheidet. Und gut ist auch, dass dies alles in Ruhe und ohne Probleme geschah. Die Beziehungen zwischen den Menschen aus den beiden Ländern sind sehr gut und problemlos.“

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