„Gute Scheidung“: Die friedliche Teilung der Tschechoslowakei von 1993

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Ende des Kommunismus änderte sich die Landkarte Mittel- und Osteuropas mehrfach. Das Experiment eines gleichgeschalteten multinationalen Ostblocks war gescheitert. Die Völker am westlichen Rand der Sowjetunion bildeten wieder ihre eigenen Staaten. Und als die ethnischen Konflikte auf dem Balkan bis zum Krieg führten, wurde auch das Territorium Jugoslawiens in sechs Länder aufgeteilt. Die Trennung der Tschechoslowakei verlief hingegen friedlich und pragmatisch. Bis heute wird die Aufteilung in die Tschechische und die Slowakische Republik allgemein positiv bewertet.

Milada Polišenská | Foto: Anglo-American University in Prague

Ab 1. Januar 1993 galt wieder eine neue Karte für Europa. Aus der Tschechoslowakei, die sich 1918 nach dem Auseinanderfall der österreich-ungarischen Monarchie als demokratischer Staat gegründet hatte, waren nun die Tschechische und die Slowakische Republik geworden. Für Milada Polišenská, geboren 1952, ist dies bis heute eine sehr emotionale Episode in ihrem Leben. Die Professorin für Geschichte und internationale Beziehungen an der privaten Anglo-American University in Prag sagte unlängst in den Inlandssendungen des Tschechischen Rundfunks:

„Wir wissen aus der Geschichte des Zerfalls der Tschechoslowakei, wie groß die Sehnsucht nach einem eigenständigen Staat war und welch starken Impuls sie gegeben hat zu einer ganzen Reihe positiver Entwicklungen. Ich höre nicht auf, der Geschichte dankbar zu sein dafür, dass ich dies in einem optimalen Lebensalter erleben durfte und dass die Teilung auf samtene Weise ablief.“

Foto: Radio Prague International

Dies sei einzigartig in der Historie und sehr wertvoll gewesen, fügt Polišenská hinzu.

Eine positive Rezeption bedeutet aber nicht, dass die Ereignisse von vor 30 Jahren heute noch einfach nachvollziehbar sind. Denn die Tschechoslowakei der Nachwendezeit war ein funktionierender Staat in Aufbruchstimmung, ohne schwerwiegende ökonomische Probleme oder ethnische Konflikte – anders als etwa in Jugoslawien. Diskutiert wurde eine mögliche Teilung allerdings schon seit der Samtenen Revolution vom November 1989. In den Debatten um eine neue, wie es hieß, staatsrechtliche Gestaltung verhärteten sich die Fronten zusehends. Die politische Neuordnung durch die Wahl im Sommer 1992 setzte die Dinge dann in Bewegung. Václav Klaus als Mehrheitsvertreter der tschechischen Seite sowie Vladimír Mečiar als jener der slowakischen Seite unterschrieben am 26. August 1992 den Teilungsvertrag. Dazu bemerkt der Soziologe Miloslav Bahna von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften im Gespräch mit Radio Slovakia International:

„Es ist wichtig zu betonen, dass die Teilung der Tschechoslowakei ein politisch gesteuerter Prozess war, der von den Eliten beider Länderteile angeregt wurde. Die tschechischen und slowakischen Spitzenpolitiker konnten sich nicht darauf einigen, wie die Markttransformation ablaufen sollte. Die tschechische Perspektive lautete: je schneller desto besser. Dagegen waren die Slowaken viel zurückhaltender und bevorzugten ein langsameres Vorgehen.“

Vladimír Mečiar und Václav Klaus | Foto: ČT24

Was den Willen zur staatlichen Souveränität angehe, seien wiederum die slowakischen Politiker aktiver aufgetreten, urteilt der Politologe Juraj Marušiak, der ebenfalls an der Akademie der Wissenschaften in Bratislava tätig ist:

„Allerdings wich die Regierungspartei HZDS genauen Angaben zu den künftigen tschechoslowakischen Beziehungen und der finalen staatsrechtlichen Aufteilung aus. In den zwei letzten Jahren der Tschechoslowakei brachten die Slowaken verschiedene Forderungen dazu hervor. Die tschechische Seite reagierte zwar auch darauf. Aber letztlich war es Václav Klaus, der die slowakischen Politiker vor die eindeutige und harte Wahl zwischen Föderation und Eigenständigkeit stellte.“

Wäre Mečiar auf eine Fortführung der Föderation eingegangen, hätte dies seinen politischen Bankrott bedeutet, ergänzt Marušiak. So sei es also zu der radikalen Lösung gekommen, wie es der Politologe ausdrückt.

Juraj Marušiak | Foto: TA3

Mit dieser waren aber auch in Tschechien nicht alle politisch Verantwortlichen einverstanden. Staatspräsident Václav Havel etwa war gegen eine Teilung und forderte ein Referendum. Als stattdessen die politischen Absprachen konkret wurden, trat er als Staatsoberhaupt der Tschechoslowakei zurück. Am 26. Januar 1993 wurde Havel dann zum Präsidenten der neuen Tschechischen Republik gewählt.

Politisches Versagen oder Erfolg?

Jugoslawien in den Jahren 1963–1991 | Foto: public domain

Nicht wenige Wissenschaftler aus dem Ausland bewerten die staatliche Trennung heute als ein Versagen der hiesigen politischen Eliten. Michal Kopecký hält dem entgegen, dass die Tschechoslowakei sich nach 1945 zu einer modernen Nation entwickelt und damit den Grundstein für die beiden heutigen Republiken gelegt habe. Der Historiker von der tschechischen Akademie der Wissenschaften führt gegenüber Radio Prag International aus:

„Dieser Staat bildete einen Hafen für die beiden Nationen. Die Teilung war in gleichem Maße ein Versagen, wie sie auch ein Erfolg war. Anstatt nach einem Versagen des Staates zu fragen, würde ich es als eine Scheidung betrachten. Historiker und verwandte Wissenschaftler beurteilen die Teilung der Tschechoslowakei immer im Vergleich mit anderen Trennungen im postsozialistischen Raum. So etwa in Jugoslawien, wo es eine blutige Scheidung gab. Aber die tschechisch-slowakische Trennung war eine gute Scheidung.“

Allerdings hätten als Folge der kommunistischen Ära noch eindeutige Mängel in der demokratisch-politischen Kultur geherrscht, fügt Kopecký an. Eine günstige Voraussetzung sei aber gewesen, dass es keine ethnischen Konflikte oder streitbare Gebietsansprüche zwischen den beiden Seiten gegeben habe. Und Milada Polišenská weist noch auf einen weiteren Gesichtspunkt hin:

„Wir sind es gewohnt, auf die Geschichte aus der Perspektive der Nationalstaaten zu blicken. Der tschechische Staat – nicht als einziger, aber als einer von wenigen – hat aber historisch auch die Besonderheit recht klar definierter Grenzen. Der Grundriss des Kernlandes Tschechien zog sich immer entlang einer Linie, die vor allem geografisch gegeben ist und von den Gebirgen bestimmt wird.“

Československo - Česko-Slovensko - Tschechoslowakei | Foto: Archiv von Kartografie Praha

Mehrheit der Bevölkerung war gegen die Teilung

So gab es also mehrere Faktoren, die damals für eine staatliche Trennung sprachen. Sei es aber einem über 70 Jahre lang gewachsenen gemeinsamen Nationalbewusstsein oder der Abstraktheit der politischen Debatte geschuldet – die Mehrheit der Bevölkerung habe sich jedenfalls von den Politikern nicht überzeugen lassen, so Soziologe Bahna:

„Die öffentliche Meinung positionierte sich in beiden Teilen der Tschechoslowakei nicht zugunsten der Teilung. Wäre ein Referendum abgehalten worden, hätten die Wähler sowohl in Tschechien als auch in der Slowakei am ehesten dagegen gestimmt.“

Foto: Jeroen van Oostrom,  FreeDigitalPhotos.net

Dies sei durch zeitgenössische Umfragen belegt, bestätigt auch Michal Kopecký. Für die politischen Führungen in beiden Teilen der Noch-Tschechoslowakei sei die Trennung aber die einfachere Lösung gewesen:

„Und das aus dem Grund, weil die internationale Lage günstig war. Es gab gute Aussichten, ein Teil der westlichen Struktur zu werden und eine erfolgreiche Transformation zu schaffen. Zugleich war es unwahrscheinlich, dass man gegeneinander kämpfen würde. Die Teilung wurde zwar auch von vielen westlichen Politikern nicht als so vorteilhaft angesehen. Aber die Position der Tschechen und Slowaken in den internationalen Zusammenhängen drohte nicht zerstört zu werden. Vielmehr war es möglich, irgendwann zu Mitgliedern in der großen Familie der europäischen demokratischen Nationen zu werden. Und das ist ja in relativ kurzer Zeit tatsächlich auch geschehen.“

Im größeren, nämlich dem internationalen Kontext sei der Zeitpunkt für die Zweiteilung der Tschechoslowakei Anfang der 1990er Jahre sehr günstig gewesen, betont Kopecký. Die politisch Verantwortlichen auf beiden Seiten hätten deswegen eine Art Jetzt-oder-nie-Haltung eingenommen…

„Und die Ausführung gab ihnen in gewisser Weise Recht. Es kam also zu einer guten Scheidung. Wäre die Lage feindseliger gewesen und hätte eine Destabilisierung der Region gedroht – wäre es also um etwas anderes gegangen, als um die Beendigung des Kalten Krieges –, dann hätten die Tschechen und Slowaken viel pragmatischer zusammengehalten. Denn es ist besser, einen großen Staat zu haben als einen kleinen.“

Foto: Vojtěch Berger,  Tschechischer Rundfunk

Die aktuellen Umstände spielten also eine große Rolle bei der Entscheidung, die 1992 gefällt wurde. Und ganz ähnlich würden die aktuellen Umstände heute auch den historischen Blick auf die zurückliegenden Ereignisse beeinflussen, meint Kopecký und versucht, die gegenwärtige Stimmung bezüglich dieser Frage vorsichtig zusammenzufassen:

„Die Mehrheit der Bevölkerung meint jetzt wahrscheinlich, dass die Teilung eher schade war. Aber sie war eben auch ein Erfolg, und deswegen ist es jetzt ok. Heute gibt es eben zwei erfolgreiche Länder, und sie sind Teil der EU. Also wird sich positiv an diese Entscheidung erinnert.“

Diese eher zustimmende Haltung sei aber keine Selbstverständlichkeit, ergänzt der Historiker, und dürfte es auch zukünftig nicht sein. Vielmehr könne erwartet werden, dass sich das historische Bewusstsein kommender Generationen an die jeweilige allgemeine Entwicklung anpassen werde.

„Solange die EU und das europäische Integrationsprojekt erfolgreich sind und den Rahmen bilden, in dem die tschechische und die slowakische Politik gedeihen und in dem beide Länder nicht nur Nachbarn, sondern die engsten Nachbarn sein können, solange wird sich auch an die Teilung eher positiv oder zumindest nicht nur negativ erinnert. Falls sich die Dinge aber stark verändern und der EU-Raum sich fragmentieren sollte, dann könnte auch die historische Erinnerung hierzulande einen bitteren Beigeschmack bekommen.“

Foto: Graphics Mouse,  FreeDigitalPhotos.net

Es sei also nicht ausgeschlossen, dass das Stimmungspendel in oder gegenüber der EU in Zukunft in eine andere Richtung als heute ausschlage, glaubt der Historiker. Und dann könnten sich die Menschen in Tschechien und der Slowakei die Frage stellen, ob es 1993 tatsächlich zu einer staatlichen Trennung kommen musste, spekuliert Michal Kopecký. Er lenkt seinen Blick aber in eine optimistischere Richtung und äußert die Hoffnung, dass es bei den jetzigen Verhältnissen bleibe.

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