Ganz nach oben, bis vor den Abgrund - 15 Jahre sozialdemokratische Parteigeschichte in Tschechien
Am vergangenen Wochenende blickte Tschechien gespannt nach Brno (Brünn), wo der Parteitag der Sozialdemokraten über die Bühne ging. Das Ergebnis ist bekannt: Premierminister Stanislav Gross wurde von seinen Parteikollegen im Amt bestätigt, die Christdemokraten verließen daraufhin das Kabinett. Sie hatten dem Regierungschef private Immobiliengeschäfte mit undurchsichtigen Finanzierungen vorgeworfen. Die dramatischen Ereignisse der letzten Tage und Wochen verstellen jedoch die Sicht auf eine tiefer sitzende Krise - nämlich die der Sozialdemokratischen Partei (CSSD) selbst. Zu ihrer wechselvollen Entwicklung hören Sie den folgenden "Schauplatz" von Gerald Schubert:
Der Politologe Jan Bures von der Prager Karlsuniversität hat sich auf die Entwicklung der Parteien nach der Wende des Jahres 1989 spezialisiert. Gegenüber Radio Prag erklärt er:
"In den meisten osteuropäischen Staaten ist die Sozialdemokratie aus den transformierten kommunistischen Parteien hervorgegangen. Die tschechische Sozialdemokratie hingegen entstand als einzige durch die Erneuerung einer Partei aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Dabei spielten zwei Gruppierungen eine Rolle: Leute, die während der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei lebten, aber in der Sozialdemokratie noch ihre Wurzeln hatten, sowie die Führung der Exilpartei, die zur Zeit des totalitären Regimes in den USA existierte. Sogleich entstanden die ersten Konflikte: Die Leute aus dem Exil sahen die Partei im politischen Spektrum nicht so weit links und betonten eher Werte wie Freiheit, Liberalismus oder Menschenrechte und nicht so sehr die soziale Sicherheit. Die Anhänger der Sozialdemokratie zu Hause waren hingegen relativ stark vom Regime beeinflusst, das bis 1989 hier regiert hatte. Oft waren es noch Reformer aus dem Jahr 1968, und sie meinten, die Partei müsse sich eindeutig links positionieren."
Vermutlich waren diese Streitigkeiten der ersten Stunde mit ein Grund dafür, dass es der tschechischen Sozialdemokratie nicht gelang, sich gleich am Beginn der neunziger Jahre fest in der politischen Landschaft zu verwurzeln. Linksgerichtete Wähler, und hier vor allem solche, die Angst hatten, unter die Räder der ökonomischen Transformation zu kommen, die stimmten großteils lieber gleich für die Kommunistische Partei. Die Sozialdemokratie erschien daneben lediglich als Grüppchen von Traditionalisten, erstarrt in der Erinnerung an die Erste Republik und ohne politische Zukunft.
Die Wende für die CSSD kam im Jahr 1993, als Milos Zeman zum Parteichef gewählt wurde. Zeman vertrat einen harten Oppositionskurs gegenüber den damals regierenden Bürgerdemokraten von Václav Klaus, dem jetzigen Präsidenten. Vor allem der nicht immer durchsichtigen Privatisierung des Staatsvermögens, die damals gerade in vollem Gang war, sagte Zeman den Kampf an. Inhaltlich schien Zeman damit den Nerv der Zeit zu treffen. Politikwissenschaftler Jan Bures:
"Als sich die negativen Folgen der ökonomischen Transformation bemerkbar machten, also die innere Aushöhlung von Unternehmen, Bankenpleiten, eine sinkende Wirtschaftsleistung, Kreditbetrügereien usw., da begannen die Wähler darüber nachzudenken, ob Milos Zeman und die Sozialdemokratische Partei nicht vielleicht recht haben könnten."
Es begann der Aufstieg der CSSD. Äußerlich präsentierte sich Zeman als Enfant Terrible der tschechischen Politik, kultivierte das Image des volksverbundenen Kettenrauchers mit kaum verhohlener Liebe zu Bier und Kräuterschnaps und war immer gut für ein schlagzeilenträchtiges Bonmot zwischendurch. Gleichzeitig erwies er sich als zielsicherer Instinktpolitiker. Es gelang ihm, verschiedene Persönlichkeiten und politische Splitterparteien in die Sozialdemokratie zu integrieren. Dabei setzte er auf soziale Gerechtigkeit im Transformationsprozess und verringerte damit schrittweise den Einfluss der Kommunistischen Partei auf das linke Wählerspektrum. Bei den Parlamentswahlen 1998 wurde die CSSD schließlich zur stärksten politischen Kraft der Tschechischen Republik, Milos Zeman wurde Premierminister.
Die Regierung der nächsten vier Jahre, also von 1998 bis 2002, die stand im Zeichen einer etwas sonderbaren politischen Konstruktion: Oppositionsvertrag wurde sie genannt. Dahinter verbarg sich die Duldung einer sozialdemokratischen Minderheitsregierung durch die Demokratische Bürgerpartei (ODS) von Václav Klaus. Für manche stellte dieses Konstrukt eine gewisse Stabilitätsgarantie dar, andere sahen darin eher einen Nährboden für allerlei Geheimabsprachen hinter den Kulissen der demokratischen Institutionen.
Als 2002 erneut Parlamentswahlen abgehalten wurden, kandidierte Zeman nicht mehr. Warum, das ist bis heute eine geheimnisvolle Unbekannte der neueren tschechischen Geschichte. Jan Bures, Politologe an der Karlsuniversität Prag:
"Wir haben darauf keine klare Antwort. Es bleibt uns wohl nichts übrig, als Zemans eigener Version zu glauben: Nämlich, dass er nicht gerade ein besonders arbeitsamer Mensch ist, und dass er nun einfach seine Rente genießen und sich ausruhen wollte."
Zum Kronprinzen hatte Zeman den damaligen Sozialminister Vladimír Spidla bestimmt. Von einer Fortsetzung des Oppositionsvertrags wollte dieser allerdings nichts wissen, und auch charakterlich war er so ziemlich das Gegenteil von Zeman: Spidla machte eher den Eindruck eines zurückhaltenden, vielleicht sogar etwas schüchternen Intellektuellen. In Fernsehdiskussionen bewies er zwar, dass er in der Sache hart sein konnte, ansonsten aber machte er keinerlei Anstalten, die Öffentlichkeit durch virtuose Soli auf der Medienorgel bei Laune zu halten.
Dennoch gewann die CSSD 2002 noch einmal die Wahlen. Und Spidla machte das, was er angekündigt hatte: Er bildete eine, wie er sagte, pro-europäische Regierung, eine Dreiparteienkoalition mit Christdemokraten und Liberalen. Im Abgeordnetenhaus konnte sich diese von Anfang an nur auf 101 von 200 Stimmen stützen - auf die knappste aller möglichen Mehrheiten also. Für den überzeugten Europäer Spidla aber, mittlerweile EU-Kommissar in Brüssel, war das immer noch besser als eine Zusammenarbeit mit der EU-skeptischen ODS oder gar mit den Kommunisten.
Auf dem Parteitag im März 2003 trat Spidla für seine Wiederwahl an. Es war eine Kampfkandidatur mit äußerst ungewissem Ausgang. Kurz vor der Abstimmung sagte Spidla gegenüber Radio Prag:
"Dieser Parteitag ist sehr wichtig. Und ich bin davon überzeugt, dass die Delegierten der Sozialdemokratie einem kräftigen Bemühen für die Europäische Union zustimmen werden."
Der Optimismus war damals noch berechtigt, Spidla wurde im Amt des Parteichefs bestätigt. Längst ging jedoch ein Graben durch die Partei. Manche warfen Spidla vor, den Koalitionspartnern zu viele Konzessionen zu machen. Angesichts der knappen Mehrheit im Parlament stockte der Reformprozess, Richtungsstreitigkeiten in den eigenen Reihen schufen zusätzliche Probleme. Václav Klaus war mittlerweile Präsident, die Sozialdemokraten hatten in keinem der Wahlgänge ihren Kandidaten durchsetzen können - auch Milos Zeman nicht. Von nun an verzeichnete die CSSD bei allen Urnengängen Einbußen, bei den Europawahlen 2004 erlitt sie gar ein Fiasko: Nur zwei der insgesamt 24 tschechischen EU-Parlamentarier konnte die CSSD nach Strassburg schicken.
Spidla zog die Konsequenzen und trat zurück. Seine Nachfolge im Amt des Regierungschefs trat der damals erst 34-jährige Innenminister Stanislav Gross an, auf dem Parteitag am vergangenen Wochenende wurde er auch offiziell zum Vorsitzenden der CSSD gewählt. Was für andere in seinem Alter der Blitzstart in eine Traumkarriere wäre, das könnte für Stanislav Gross schon wieder das Ende der politischen Laufbahn bedeuten - unüberbrückbar die Gräben zwischen Sozial- und Christdemokraten, kaum aufzuholen der Umfragevorsprung der ODS.Vieles deutet derzeit darauf hin, dass der CSSD recht bald der Gang in die Opposition bevorsteht. Wie es dann mit der Partei weitergehen könnte, dazu wagt derzeit niemand eine Prognose. In jedem Fall aber hat die interne Zerrissenheit der CSSD ihre länger zurückliegenden Wurzeln, die mit dem Streit über die Finanzierung von Gross' Wohnung herzlich wenig zu tun haben. Der mittlerweile verstorbene Jirí Loewy, tschechischer Sozialdemokrat im deutschen Exil, hat das 2003, kurz vor seinem Tod, so formuliert:
"Manche der heutigen Abgeordneten der CSSD haben sich sichtlich in der Tür geirrt, als sie in diese Partei eingetreten sind. Denn von der Gesinnung her sind sie alles mögliche - nur keine Sozialdemokraten."