Verschwindet die Seele von Prag?
Wodurch wird das historische Stadtzentrum Prags am stärksten verunstaltet? Wie soll man zukünftig mit dem Stadtkern umgehen? Diese und weitere Fragen wurden während einer öffentlichen Debatte diskutiert, die am vergangenen Mittwoch in Prag von der Bürgerinitiative Agora Central Europe und der Tageszeitung "Lidové noviny" organisiert wurde. Mehr erfahren Sie im folgenden Spaziergang durch Prag von Martina Schneibergova und Lothar Martin.
Ein Architekt, der sich bevorzugt mit der Lösung der Verkehrsproblematik in der tschechischen Metropole befasst, sowie Vertreter des Prager Magistrats und des Tschechischen Denkmalschutzinstituts wurden im Rahmen einer öffentlichen Debatte zu einer Diskussionsrunde eingeladen, die unter dem Motto "Verschwindet die Seele unserer Städte?" veranstaltet wurde. Die Experten, von denen mehrere auch im Publikum saßen, konzentrierten sich vor allem auf die Seele der Hauptstadt Prag, die einigen Diskussionsteilnehmern zufolge allmählich zu verschwinden droht. Dazu trage u. a. auch die Tatsache bei, dass in den historischen Stadtteilen Prags die traditionell ansässige Bevölkerung inzwischen oft durch neue und reiche Bewohner verdrängt wird, die damit brüsten, sich auf einer sog. "guten Adresse" niederzulassen. Diesen Prozess, der weiterhin anhält, illustrierte Josef Stulc, der tschechische Chefkonservator mit einem Beispiel aus seiner Umgebung:
"Mein guter Freund, ein renommierter Archäologe, wohnte zwar nicht gerade auf der Kleinseite, sondern im Stadtteil Bubenec, der unter Denkmalschutz steht. Das Haus, in dem er wohnte, wurde nach der Wende den ursprünglichen Besitzern zurückgegeben und sie verkauften es an einen Mann, der Mitglied der letzten kommunistischen Regierung war. Dieser schickte einen scharfen Anwalt, um die Mieter loszuwerden. Nach einmonatigen Verhandlungen gab der Archäologe auf und zog in die Neubausiedlung nach Barrandov. Und dieser Anwalt sagte zu meinem Bekannten: ´Als ein intelligenter Mensch müssen Sie einsehen, dass Sie mit Ihrem lächerlichen Beruf in diesem Stadtviertel nichts zu suchen haben."
Diese Geschichte illustriert den Prozess, der beispielsweise auch auf der mondänen Prager Kleinseite zu beobachten ist, die mittlerweile zu den besten Wohnadressen in ganz Europa gehört. Dies wirke sich Stulc zufolge verheerend auf die Kleinseite aus.
Der Leiter der Denkmalschutzsektion des Prager Magistrats, Jan Knezínek, äußerte sich jedoch lobend über die Rekonstruktionen, die im Stadtkern durchgeführt werden:
"Ich erlebte das Prag der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre, wo in Prag praktisch nichts geschah. In den neunziger Jahren wurde eine unglaublich hohe Anzahl von Objekten rekonstruiert. Dies halte ich für positiv. Bei einer so massiven Rekonstruktion kommt es aber auch zu Irrtümern, die wir in Zukunft vermeiden möchten. Für mich stellen die Menschen, die in der Stadt wohnen und arbeiten, die Seele der Stadt dar. So stelle ich mir das künftige historische Stadtzentrum vor, so wie es heute ist, nur den Bedürfnissen der Menschen des dritten Jahrtausends angepasst."
Auf Knezíneks Worte reagierte im Publikum der Architekt Milos Solar, der vor allem die Tatsache kritisierte, dass viele Objekte zu einem einzigen Standard umgebaut werden und das Stadtbild dadurch an Vielfalt verliere.
"Der hier erwähnte Begriff der ´Rekonstruktion´ bedeutet einerseits eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands und andererseits einen Umbau. Wenn jemand, der im Magistrat für Denkmalschutz verantwortlich ist, sich hier so begeistert darüber äußert, wie der historische Stadtkern umgebaut wird, sagt dies viel über die Zustände aus."
Der stellvertretende Oberbürgermeister von Prag, Jan Bürgermeister, wohnt selbst im historischen Stadtzentrum, und zwar in der Vsehrdova-Straße unweit der Moldau. Mit den Veränderungen in seiner Umgebung ist er zufrieden:
"Die Umgebung hat von den Veränderungen bestimmt profitiert. Es gibt hier viele kleine Restaurants und Geschäfte und sie dienen alle den dortigen Bewohnern. Wenn ich natürlich in der Nerudova oder Karlova wohnen würde, wäre ich sehr sauer. Das sind Straßen, die voll von Touristen sind. Täglich passieren im Durchschnitt 30.000 Touristen diese beiden schmalen Straßen, d. h. in der Hochsaison sind es auch 50.000 Touristen am Tag. Die Funktion des Erdgeschosses wird in dortigen Häusern den Forderungen der vorbeigehenden Klientel angepasst. Den Menschen, die dort wohnen, gefällt es nicht, aber so ist es überall in der Welt."
Auf die Frage nach der Seele der Stadt konnte man keine eindeutige Antwort finden. Nach Meinung von Katerina Beckova, der Vorsitzenden der Bürgerinitiative "Klub für das alte Prag", hängt die Seele einer Stadt nicht nur davon ab, ob und wie deren historische Fassaden gepflegt werden. Denn:
"Jeder von uns hat mal das Wunder erlebt, wenn man eine Stadt besuchte, die ein wenig verwahrlost war. Wir fühlten jedoch, dass die Stadt eine Seele hat. Und die besteht eher in einer Beziehung."
Die Seele von Prag verschwinde beispielsweise unter all dem touristischen Kitsch und Ballast. Dies meinte nicht nur Katerina Beckova, die einige Fotos von verunstalteten historischen Sehenswürdigkeiten Prags zeigte. Im Publikum saß auch Olga Lomová, die in der Vojtesska-Straße unweit des Nationaltheaters wohnt. Sie meinte:
"Wir können hier mit den Touristen leben - so wie die Bewohner von Venedig zum Beispiel. Oder wir können uns von den Touristen verdrängen lassen. Ich meine, dass die Seele der Stadt vor allem durch den Autoverkehr stark verletzt wird, denn dort, wo ein starker Verkehr herrscht, ist es unangenehm, spazieren zu gehen. Und die Seele der Stadt fühlt man dort nicht mehr. Außerdem bin ich der Meinung, dass im historischen Zentrum keine Neubauten errichtet werden sollten, die nicht dorthin passen. Das bedeutet aber nicht, dass man im Stadtkern gar nichts berühren darf."
Dieser Meinung stimmte auch Karel Ksandr, Mitglied des "Klubs für das alte Prag", zu:
"Ich meine, dass das historische Stadtzentrum nicht konserviert werden kann wie ein Naturschutzgebiet - wie z. B. der Urwald Boubín im Böhmerwald, wo gar nichts gemacht werden darf. In der Stadt leben doch Menschen. Wenn aber unter der sog. Revitalisierung der Denkmalschutzzone das gemeint wird, was heute auf dem Platz der Republik aus den früheren Kasernen von Georg von Podiebrad entsteht, dann ist das eine Katastrophe. Die Stadtbehörden haben hier meiner Meinung nach versagt. In den historischen Stadtkern werden mehr Autos fahren können, weil hier Garagen mit einer großen Kapazität errichtet werden. So etwas halte ich für keine Revitalisierung des Stadtzentrums. Dies ist ein typisches Beispiel einer Einrichtung, die am Stadtrand in der Nähe der Autobahnen gebaut werden sollte und ganz bestimmt nicht im historischen Stadtkern, der in Prag sehr wertvoll ist. Dies ist ein abschreckendes Beispiel."
Mit den Ausführungen von Karel Ksandr beenden wir zwar die heutige Ausgabe des Spaziergangs durch Prag, aber nicht die Debatte über die Seele von Prag, die wir in einer der nächsten Ausgaben des Spaziergangs fortsetzen möchten. Da werden wir uns an eine Prager Sehenswürdigkeit erinnern, die leider nicht mehr existiert. Denn vor 20 Jahren wurde einer der schönsten Bahnhöfe Europas abgerissen - der Prager Bahnhof Tesnov. Wir freuen uns daher auf ein Wiederhören beim nächsten Spaziergang!