Dieter Müller – Prager Botschaftsflüchtling 1984

Dieter Müller mit Kindern in Dresden 1983 (Foto: Familienarchiv Dieter Müller)

Vor einer Woche sind einige Botschaftsflüchtlinge von 1989 noch einmal an den Ort des Geschehens in Prag zurückgekehrt. Was meist aber vergessen wird: Fünf Jahre früher gab es auch schon bereits eine Fluchtwelle von DDR-Bürgern in die westdeutsche Vertretung an der Moldau. Dieter Müller war 1984 insgesamt 37 Tage lang auf dem Gelände des Palais Lobkowicz. Radio Prag zeichnet seine Geschichte nach.

Dieter Müller mit Kindern in Dresden 1983  (Foto: Familienarchiv Dieter Müller)
„Auf diplomatischer Ebene und mithilfe von international erfahrenen Rechtsanwälten wird gegenwärtig in Sondierungen zwischen Bonn, Prag und Ost-Berlin versucht, das Schicksal der Flüchtlinge in der Prager Botschaft zu klären“, so heißt es in der Tagesschau vom 25. Februar 1984.

Da viele DDR-Bürger westliche Medien verfolgen, erfahren auch sie von ihren geflüchteten Landsleuten. Vor allem aber macht ihnen Mut, dass sogar eine Nichte von DDR-Ministerpräsident Willy Stoph hinaus will. Diese ist ebenfalls mit der Familie in die westdeutsche Botschaft in Prag geflüchtet. Zwar muss sie dann zurück in den Osten, kann aber kurze Zeit später in die Bundesrepublik ausreisen.

Dieter Müller lebt damals in Dresden, also im „Tal der Ahnungslosen“, wie er sagt. Doch über Mittelwelle empfängt er ebenfalls West-Funk. Im März 1984 stellen er und seine Frau Rossitha den ersten von mehreren Ausreiseanträgen. Gegenüber Radio Prag schilderte er in einem Telefonat vergangene Woche:

Rossitha Müller mit Kindern in Dresden 1983  (Foto: Familienarchiv Dieter Müller)
„Wir haben insgesamt vier Anträge abgegeben und sind jedes Mal abgelehnt worden. Im Frühjahr ist mir dann schon gedroht worden, dass ich vielleicht eingesperrt würde, wenn ich noch einmal käme.“

In den Anträgen haben die Müllers genau aufgelistet, warum sie die DDR verlassen wollen. Unter anderem beklagen sie „keine freie Meinungsäußerung ohne politische Nachteile“, aber auch die Reisebehinderungen sowie inflationäre Tendenzen in der Wirtschaft.

„Wir haben dann länger gewartet. Und Ende September und Anfang Oktober 1984 berichteten die Westmedien – für uns in Dresden Sender Freies Berlin oder Deutschlandfunk –, dass in den verschiedenen Botschaften, aber vor allem in Prag, DDR-Bürger waren.“

Per Anhalter nach Prag

Illustrationsfoto: Verlag Polyglott
In der Zwischenzeit hat Dieter Müller seine Stelle als Leiter eines Kinderhorts verloren. Er muss ab da wieder in die Produktion und wählt seinen ersten Ausbildungsberuf als Gummifacharbeiter. Die Müllers quälen sich zwei Nächte lang mit den Gedanken an die Flucht. Um nicht die ganze Familie zu gefährden, soll aber nur einer den Versuch wagen…

„Ich habe mich dann losgemacht. Da war ich bereits wieder in meinem alten Beruf im Reifenwerk Dresden tätig. Ich bin dann früher gegangen, weil ich Überstunden hatte, und habe den Bus an die Grenze nach Zinnwald beziehungsweise Cínovec genommen. Von dort bin ich per Anhalter mit einem Lkw nach Prag gefahren.“

Es ist ein österreichischer Trucker aus Wels, der ihn mitnimmt. Dieser bringt den Tramper aus der DDR am Zielort noch extra an eine Straßenbahnhaltestelle. In einem Buchladen findet Dieter Müller einen deutschen Reiseführer, aus dem er die Adresse der westdeutschen Botschaft erfährt. Unter anderem von einem jungen Mann lässt er sich dorthin, also zum Palais Lobkowicz auf der Prager Kleinseite führen. Allerdings hat die Botschaft schon geschlossen.

„Ich hab dann in einem Keller in Prag in der Nähe der Moldau übernachtet. In der Früh bin ich in die U-Bahn gegangen und habe mich aufgewärmt. Darauf bin ich wieder zur Botschaft, dort hing aber ein Zettel mit der Aufschrift ‚Geschlossen‘. Also bin ich in der Nähe der Botschaftsadresse Vlašská 9 herumgelaufen. Ich traf auf eine Familie, die ich ansprach und fragte, ob sie auch dort hineinwollte. Das war natürlich gefährlich, weil es ja Stasi-Leute hätten sein können“, so der heute 70-Jährige.

Anschlag an der Botschaft der Bundesrepublik in Prag  (Foto: Familienarchiv Dieter Müller)
Die Familie hat aber dasselbe Ziel wie Dieter Müller. Vor der Botschaft treffen sie alle auf ein Fernsehteam der ARD und werden interviewt.

„Später kam ein Mitarbeiter des Fernsehteams wieder und sagte: ‚Der Zaun hinten ist nicht allzu hoch.‘ Da sind wir hin und alle – vom zehnjährigen Jungen bis zum 70-jährigen Mann – über den Zaun gestiegen. Dann waren wir dort und superglücklich.“

Es ist ein zwei Meter hoher Barockzaun, über den der Einstieg gelingt. Dazu federt ein Haufen Laub im Hof der westdeutschen Botschaft den Fall ab. Ein Angestellter kommt und ist entsetzt, dass die Flüchtlinge aus Ostdeutschland bereits Zäune übersteigen. Er nimmt die Personalien auf. Und für Dieter Müller beginnen lange Tage im Palais Lobkowicz – zusammen mit zahlreichen weiteren DDR-Bürgern...

Palais Lobkowicz  (Foto: VitVit,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
„Ich habe sie gezählt. Am Anfang waren es 66, in der Spitze dann 162. Zunächst waren zu wenige Matratzen dort, ich konnte also nur auf einem Drittel Matratze schlafen. Mit uns wurde sehr sachlich umgegangen und immer darauf hingedeutet, dass wir bald wieder hinaus müssten. Aber die meisten haben sich nicht darauf eingelassen.“

Eingekleidet ist Dieter Müller in einen Trainingsanzug der Bundeswehr. Manchmal gibt es auch etwas Ablenkung. In seinen Erinnerungen schreibt Müller:

„Es wurden Filme vorgeführt, u. a. ‚Der Exorzist‘, aber nur einmal, viel zu brutal für ungeübte DDR-Seelen! Im barocken Treppenaufgang kam eine Lesung aus einem Stück von Martin Walser zum Vortrag, und es spielten Bläser klassische Musik. Die Bibliothek war einer der Aufenthaltsräume und immer stark frequentiert.“

Zwischen den Zeilen

Doch unter den Menschen herrscht große Anspannung. Es geht für alle um ihre Zukunft, sie wollen raus aus der DDR. Deswegen wird der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel eingeschaltet, zuständig für Familienzusammenführungen und auch für den Austausch von Spionen. Dieter Müller:

Buch über Wolfgang Vogel  (Foto: Verlag Heyne)
„Er versprach uns aber nicht, dass wir in den Westen dürfen. Sondern man musste zwischen den Zeilen lesen. Er sagte, wir würden nicht die Letzten in der Schlange sein, sondern wir würden in die Schlange eingereiht. Das bedeutete, nicht mehr allzu viele Jahre warten zu müssen. So haben wir uns Hoffnungen gemacht. Und ich bin dann raus, als sich am meisten Menschen in der Botschaft angesammelt hatten, aber auch einige schon wieder hinausgegangen waren. Ich dachte: Ich will nicht der Erste sein und nicht der Letzte!“

Am 13. November 1984, nach 37 Tagen, verlässt Dieter Müller die Botschaft. Er kehrt dann in die DDR zurück. Am zweiten Tag besucht er Wolfgang Vogel in dessen Berliner Anwaltskanzlei, um Genaueres zu erfahren über das weitere Vorgehen. Es folgt jedoch eine weitere Zeit des Wartens. Die Behörden ziehen die Bewilligung zur Ausreise in die Länge. Im März 1985 stellen er und seine Frau Rossitha den insgesamt vierten Antrag. Man ist mit einem Herrn Schurz aus der Abteilung Inneres vom Rat der Stadt Dresden in Kontakt. Dieser sagt ihnen, dass die Bearbeitung bis zu einem halben Jahr dauern könnte.

In seinen Stasi-Akten entdeckt Dieter Müller später unter anderem auch ein Schreiben der Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in Dresden an die Zentrale in Berlin. Dort heißt es, dass „der Botschaftsfall Müller, Dieter“ bei seinem letzten Besuch am 16. Mai 1985 gesagt hätte, er verstehe nicht, warum seine Übersiedlung noch nicht geklärt sei. Und weiter:

Gebäude der ehemaligen Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit  (MfS) in Dresden  (Foto: Heinz-Josef Lücking,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0 DE)
„Wegen diesem problem, so teilte er mit, hat er sich auch an rechtsanwalt vogel gewandt. m. und seine ehefrau forderten die uebersiedlung. In diesem zusammenhang will er per 31.05.1985 sein arv (Arbeitsrechtsvertrag) aufkuendigen. Ihr kind soll nicht mehr in eine ddr- schule eingeschult werden. zum problem m wird eine abstimmung mit der zkg herbeigefuehrt. Bvfs (Bezirksverwaltung für Staatssicherheit) dresden.“

Stasi-Akte und volle Kaufhäuser

Erst als die Müllers im Juli auf dem Amt in Dresden drohen, dort zu übernachten, klappt es. Sie erfahren, dass sie am 27. Juli endlich das Land verlassen dürfen. Die Ausreisepapiere werden erst einen Tag vorher ausgehändigt.

Hofer Bahnhof  (Foto: 8474tim,  Wikimedia Commons,  CC BY-SA 3.0)
„Dann war man glücklich und gespannt, Ungewissheit hatten wir auch. Es war gar nicht so einfach, aber es gab die Erleichterung.“

In der Nacht geht die Fahrt über Plauen nach Hof in Bayern.

„Da sind wir dann von der Caritas auf dem Bahnhof ‚entdeckt‘ worden, und man hat uns verpflegt und mit dem ersten Geld versorgt. Wir mussten aber weiter nach Gießen in das zentrale Aufnahmelager.“

Dort erfolgen alle bürokratischen Schritte, um die vier Müllers zu Bundesbürgern werden zu lassen. Letztlich helfen Urlaubsbekannte aus Coburg dabei, eine kleine Wohnung in Bayreuth zu finden. An die Zeit des Ankommens hat Dieter Müller noch lebhafte Erinnerungen:

Dieter Müller  (Foto: Familienarchiv Dieter Müller)
„In der DDR herrschte ja wie in allen sozialistischen Ländern eher eine Mangelwirtschaft. In Bayreuth, unserer ersten Anlaufstelle, gab es das Kaufhaus ‚Hertie‘. Dort sind wir hinein, und nach zehn Minuten waren wir völlig erschlagen von dem Warenangebot. Übervolle Regale waren wir gar nicht gewöhnt. Wir bekamen Kopfschmerzen und mussten raus. Dann haben wir uns gezielt vorbereitet, dass wir uns beim nächsten Mal nur das anschauen, was wir brauchen und was uns interessiert.“

Beide finden in der Bundesrepublik recht schnell wieder in ihren Beruf zurück, Rossitha Müller als Ingenieurin in der Lebensmitteltechnologie und Dieter Müller als Erzieher. Anfang 1987 ziehen sie in die Nähe von München. Heute leben sie am Staffelsee in Oberbayern. Doch der ehemalige Botschaftsflüchtling fügt auch noch ein Wort zu den Menschen in Prag hinzu:

„Wir sind den Tschechen sehr dankbar, weil sie mich damals nicht daran gehindert haben, über den Zaun zu klettern. Das änderte sich noch am gleichen Tag, dann wurde niemand mehr an die Botschaft gelassen. Offensichtlich hatte die DDR interveniert, dass das so nicht gehen könnte.“

Autor: Till Janzer
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