Vor 30 Jahren: Botschaftsflüchtlinge und Genscher-Rede
Prag im September 1989: Viele Tausend Flüchtlinge aus der DDR besetzen die Botschaft der Bundesrepublik. Und dann wird der Traum war – sie können in den Westen ausreisen.
Auch in die Botschaften in Warschau und Budapest waren im Sommer 1989 zahlreiche DDR-Bürger geflüchtet. Doch den größten Ansturm gab es in der tschechoslowakischen Hauptstadt. Chris Bürger war damals einer der Flüchtlinge in Prag. Bei einem Fest der Botschaft am Samstag erinnerte er sich an die Zeit damals:
„Wir haben damals mit den Füßen abgestimmt. Und genau so muss man das auch betrachten. Wir kamen nicht hierher, weil wir uns als Ziel gesetzt hatten, in der DDR eine politische Wende zu erzielen. Sondern jeder von uns hatte seine eigene Geschichte mit Sanktionen und Repressionen hinter sich und hatte mit dem Staat abgeschlossen.“
Der letzte Ausweg sei die Flucht in eine der Botschaften der Bundesrepublik gewesen, so Bürger.Für die Verwaltung im Palais Lobkowicz wurde dies auch zu einer logistischen Herausforderung. Mitarbeiter und Helfer des Roten Kreuzes leisteten Enormes, um alle zu versorgen: 35 Großzelte wurden herangeschafft, vier Feldküchen, 3000 Betten und Matratzen, fast 6000 Schlafsäcke und vieles mehr. Jeden Tag fuhren Transporter ins oberpfälzische Weiden, um Lebensmittel zu besorgen.
Herbert Schmitz aus Euskirchen im Rheinland half damals ehrenamtlich beim Roten Kreuz. Als er nach Prag gerufen wurde, waren rund 500 Menschen auf dem Botschaftsgelände. Sein Team kochte zunächst zwar zu Mittag, um Frühstück und Abendessen kümmerten sich die Flüchtlinge aber selbst. Doch das änderte sich schnell.
„Es waren dann Tausende hier. Also haben wir Frühstück, Mittag und alles immer in einem gemacht – im Prinzip haben wir 24 Stunden durchgekocht, weil die Leute hier Schlange standen“, so der 67-jährige Schmitz.Die Lage wurde immer angespannter. Das Team um Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher hatte bereits im August begonnen, mit der DDR-Führung über eine Ausreise der Flüchtlinge zu verhandeln. Der Durchbruch kam erst am 29. September. Und das verkündete Genscher am Abend des folgenden Tages auf dem Balkon der Prager Botschaft:
„Wir sind gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise (möglich geworden ist).“
Der damalige Kanzleramtsminister Rudolf Seiters stand in dem Moment neben Genscher. Er sagt heute:
„Es war praktisch der erste Stein, der aus der Mauer gebrochen wurde. Die Hilfslosigkeit der DDR-Führung war ja klar erkennbar. Sie hatte sich wochenlang geweigert, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen. Ost-Berlin drängte immer darauf, dass wir unsere Botschaften schließen, doch das haben wir abgelehnt.“So laut der Jubel unter den Flüchtlingen war nach den Worten Genschers, so groß war das Entsetzen über eine Bedingung für die Ausreise. Die Züge sollten nämlich über DDR-Territorium in die Freiheit fahren.
„Da haben hier unten 5000 Menschen gestanden und geschrien: ‚Nein, niemals, wir steigen nicht ein.‘ Zu diesem Moment kippte die gesamte euphorische Siegesstimmung komplett“, erinnert sich Chris Bürger.
Genscher habe es aber geschafft, die Menschen wieder zu beruhigen, so der frühere Flüchtling:„Er hat mit seinem Ehrenwort und seinem Namen dafür gebürgt, dass alle, die an dem Abend anwesend waren, am nächsten Tag gesund und munter in der Bundesrepublik angekommen sein werden.“
Um die Befürchtungen zu zerstreuen, sollten ursprünglich auch Genscher und Seiters in den Zügen mitfahren. Doch DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker legte wohl höchstpersönlich sein Veto ein. Die Nachricht überbrachte der Ständige Vertreter Ost-Berlins in Bonn, Horst Neubauer. Genscher und er hätten dies noch vor ihrem Flug nach Prag erfahren, so Seiters:
„Man hatte sich wohl überlegt, dass es einen schlechten Eindruck machen würde, wenn DDR-Bürger von zwei Ministern der westdeutschen Regierung in einem Triumphzug in die Bundesrepublik gefahren würden. Wir konnten nichts ändern. Ich habe anschließend noch mit Neubauer telefoniert. Er sagte: ‚Ich kann auch nichts machen. Das ist jetzt von ganz oben entschieden worden.‘ Letztlich spielte es aber keine Rolle. Wir hatten auch einige Staatssekretäre dabei und hohe Beamte, die uns dann vertraten.“
Für Chris Bürger wurde es dennoch die schlimmste Zugreise seines Lebens, wie er am Samstag gestand:„Während der ganzen Fahrt bin ich nicht eine Sekunde gesessen. Ich stand immer am Fenster und habe nach draußen geschaut. Sobald der Zug langsamer wurde oder mal anhielt, habe ich sofort das Gelände abgecheckt: Was ist da los? Kommen da welche auf uns zu? Stehen da irgendwo Lkws mit Mannschaftswagen?“
Erst als der Zug im bayerischen Hof ankam, machte sich auch bei Chris Bürger die Freude breit. Wenige Wochen später fiel dann die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten, am 9. November 1989.