Symbolgehalt, Misserfolge und eine neue Hoffnung

Mikolas Josef (Foto: ČTK)

Die Tschechen verbindet mit dem ESC eigentlich eine lange Geschichte. Die hat auch mit 1968 zu tun.

Mikolas Josef  (Foto: ČTK)
„Lie To Me“ heißt der tschechische Song für Lissabon. Er kommt von Mikolas Josef, der seit 2015 in Wien lebt. Der 22-jährige Sänger erhielt bei der nationalen Ausscheidung fast die Hälfte aller Stimmen und überzeugte auch eine internationale Jury.

Es ist ein weiterer Anlauf – nach insgesamt sechs erfolglosen Versuchen von ESC-Teilnehmern nach dem Wiedereinstieg des Landes 2007. Doch die Geschichte der Tschechen und des Song Contest begann eigentlich bereits vor einem halben Jahrhundert. 1968 trat nämlich Schlagerstar Karel Gott bei dem Wettbewerb an – jedoch nicht etwa für seine tschechoslowakische Heimat, sondern für Österreich. Wie ist es aber dazu gekommen? Der Historiker Dean Vuletic hat sich mit dem European Song Contest seit der Gründung im Jahr 1956 beschäftigt:

1968 trat Karel Gott bei dem Wettbewerb an  (Foto: YouTube)
„Es war die Zeit des Prager Frühlings. Und der ORF entschied sich für Karel Gott, um damit zu demonstrieren, dass Österreich die damalige Reformbewegung in der Tschechoslowakei unterstützt. Die Reformen schlossen ja auch die Liberalisierung der Medien ein. Der ORF hatte zu der Zeit gute Beziehungen zum Tschechoslowakischen Fernsehen. Der Österreichische Rundfunk lieferte dann auch die meisten Bilder vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag, mit dem später im Jahr der Prager Frühling niedergeschlagen wurde.“

„Tausend Fenster“ hieß damals der Song, den Karel Gott sang. Geschrieben war er von Udo Jürgens.

Dean Vuletic  (Foto: Ondřej Tomšů)
„Der Text des Lieds war sehr symbolisch. Er handelt von Nachbarn, die einander nicht kennen. Das war auch eine Anspielung auf den Eisernen Vorhang“, meint Vuletic.

Konkurrenzveranstaltung Intervize

Doch Karel Gott landete damals nur auf dem 13. Platz von insgesamt 17 Staaten. Die Tschechoslowakei war damals allerdings nicht dabei. Im Gegenteil: Schon ab 1965 bestand ein ähnlicher Wettbewerb unter der Leitung des Tschechoslowakischen Fernsehens. Es war die Intervize, an der zunächst vor allem Staaten aus dem Ostblock teilnahmen. Ende der der 1970er Jahre wurde dieses Format mit dem Intervision Song Contest für kurze Zeit noch einmal wiederbelebt. Dean Vuletic:

Jiří Pelikán  (Foto: Tschechisches Fernsehen)
„Das Tschechoslowakische Fernsehen schuf den Wettbewerb als Äquivalent zum ESC, aber nicht notwendigerweise als Konkurrenzveranstaltung. Der damalige Leiter des Staatsfernsehens, Jiří Pelikán, wollte eigentlich westliche Staaten mit an Bord holen – um eine gesamteuropäische Version des Song Contest aufzubauen. So sollte eine Kooperation des Westens und des Ostblocks gefördert werden. Das spiegelte auch die Liberalisierungstendenzen in der Tschechoslowakei seit 1964 und ging der Öffnung des Landes für den Einfluss westlicher Kultur zu Zeiten des Prager Frühlings voraus.“

Doch die Macher des Eurovision Song Contest waren nicht so begeistert von dieser Chance. Zum einen war nicht klar, ob der ESC überleben würde, nachdem es aus der Presse im Westen Kritik gehagelt hatte.

„Der andere Grund war, dass sie die Kooperation mit TV-Stationen in Osteuropa weiterhin skeptisch sahen. Sie wollten nicht auf solche Art die kommunistische Herrschaft dort legitimieren“, sagt Vuletic.

Niederschlagung des Prager Frühlings  (Foto: Archiv des Tschechischen Rundfunks)
Dennoch kam es 1968 in Karlovy Vary / Karlsbad zum ersten und einzigen gesamteuropäischen Fernseh-Song-Wettbewerb über die ideologischen Grenzen hinweg zu Zeiten des Kalten Kriegs:

„Tatsächlich nahmen einige westeuropäische Staaten teil wie Österreich, Westdeutschland oder Spanien. Es war wirklich eine eindrucksvolle Veranstaltung. Die Zeitungen schrieben sogar, dass selbst die Amerikaner im darauffolgenden Jahr – also 1969 – aufspringen wollten. Doch dazu kam es nicht, weil die Intervize nach der Niederschlagung des Prager Frühlings beendet wurde. Denn die liberal gesinnten Leiter des Tschechoslowakischen Fernsehens mussten in der Folge ihre Posten aufgeben.“

Gute Einschaltquoten in den 1980ern

Und wie ging es mit der Tschechoslowakei beziehungsweise Tschechien und dem ESC weiter? Erst nach der politischen Wende und nach der Staatsteilung kam es im Jahr 2007 erstmals zur Teilnahme. Nach drei erfolglosen Auftritten war aber erst einmal Schluss. Der Neueinstieg erfolgte 2015, doch bei der Einschaltquote liegt Tschechien sehr weit hinten. Nur etwa drei Prozent der Fernsehzuschauer sahen im vergangenen Jahr den Wettbewerb. Zum Vergleich. In Schweden waren es 29 Prozent und in Island sogar 46 Prozent. Dean Vuletic sagt jedoch, das sei nicht immer so gewesen:

Foto: Tschechisches Fernsehen
„Die tschechoslowakischen Fernsehzuschauer haben den ESC auch während des Kalten Kriegs geschaut. Ab 1965 wurde er im nationalen Fernsehen als Teil der Austauschprogramme zwischen Ost- und Westeuropa gezeigt. Und die Übertragungen waren recht populär. Ich habe Statistiken gesehen, denen nach in den 1980er Jahren regelmäßig ein Viertel der Zuschauer den Song Contest eingeschaltet hat. Nach der Samtenen Revolution gingen die Zahlen jedoch rapide zurück. Eine meiner Theorien geht dahin, dass der Musikgeschmack hierzulande damals eher in Richtung Rock- anstatt Popmusik ging. Der Pop beim ESC ähnelte dem der Intervize, also den Produktionen von Karel Gott und Helena Vondráčková zu kommunistischen Zeiten. Rockmusik hatte hingegen eher die Aura des Widerstands, und nach der Wende galt sie einfach als cooler.“

Bei den sechs Teilnahmen tschechischer Künstler seit 2007 gelang nur einmal der Einzug ins Finale. Das war 2016 die Sängerin Gabriela Gunčíková. Alle anderen blieben im Halbfinale hängen – so auch die Rockmusiker von Kabát gleich zu Beginn, die damals nur ein einziges Pünktchen erhielten.

Kabát  (Foto: Filip Jandourek,  Archiv des Tschechischen Rundfunks)
„Der Auftritt von Kabát entsprach nicht der normalen Ästhetik des ESC, es waren ältere Rockmusiker im Jeanslook, die Tschechisch grölten. Das konnte nicht klappen, weil es ja eigentlich ein Popwettbewerb ist. Und das trotz Lordi, die im Jahr zuvor gewonnen hatten. Aber die Mitglieder der finnischen Heavy-Metal-Band waren als Monster verkleidet, und das war einprägsam. Auf Kabát traf das hingegen nicht zu“, glaubt Dean Vuletic.

Rockmusiker im Jeanslook

Das bisher unglückliche Erscheinungsbild tschechischer Musiker beim ESC soll nun Mikolas Josef korrigieren. Und der Historiker meint, dass dies vielleicht gelingen könnte:

Foto: YouTube Kanal Eurovision Song Contest
„Dieses Jahr sagen viele Kommentatoren, dass Tschechien sehr gute Chancen habe, ins Finale einzuziehen. Ich stimme dem zu, ich finde den Song ‚Lie To Me‘ von Mikolas Josef sehr stark. Es ist der bisher beste Teilnehmer, den Tschechien seit dem Wiedereinstieg zum ESC schickt. Lasst uns also hoffen.“

Mikolas Josef wird bereits am Dienstag sein Halbfinale bestreiten. Das Finale steigt dann am Samstagabend. Und der tschechische Sänger liegt bei den Wettanbietern sogar auf dem dritten Platz für einen möglichen Gesamtsieg. Topfavorit ist Netta Barzilai aus Israel mit einer Empowerment-Hymne für Frauen.

Autor: Till Janzer
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