„Klischees, die zur Wahrheit werden“ – Tschechische Literatur im deutschen Sprachraum

Foto: Annette Kraus

Welche tschechischen Bücher finden den Weg zu deutschsprachigen Lesern? Und warum sind es nur so wenige? Um Fragen wie diese ging es am Montag in der Václav-Havel-Bibliothek in Prag. Zu einem „Gespräch über die Grenzen“ trafen sich die Autorin Radka Denemarková und der Literaturkritiker Jörg Plath. Dass Weltliteratur nichts mit der Größe des Herkunftslandes zu tun hat, darüber waren sich die beiden einig. Andererseits wurde deutlich, dass sich eine „kleine“ Literatur wie die tschechische nur schwer von nationalen Zuschreibungen und stereotypen Klischees befreien kann – am Ende fragt schließlich immer jemand nach Švejk.

Foto: Annette Kraus
Zwei Büchermenschen saßen auf dem Podium der Václav-Havel-Bibliothek. Aus Berlin angereist war der Publizist und Literaturkritiker Jörg Plath. Er schreibt unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und Deutschlandradio Kultur. Seit er vor Jahrzehnten Bohumil Hrabal für sich entdeckt hat, nimmt ihn die tschechische Literatur gefangen. Die Auswahl allerdings, die ihm deutsche Verleger präsentieren, die sei natürlich voller Klischees:

„Es ist nicht das Abbild dessen, was in Tschechien geschrieben wird, sondern es ist eben auch das, was wir uns in Deutschland von tschechischer Literatur vorstellen – die Literatur, die uns deutschen Lesern in Tschechien spannend erscheint. Das ist ein gegenseitiger Prozess der Auswahl und der Verstetigung von Klischees, die dann ihre eigene Wahrheit erlangen, weil man sie sehen kann – sie sind ja besetzt worden. Es gibt offenbar nur das junge, listige, ungebärdige, wendige Literaturleben in Tschechien. Ich kenne nichts anderes.“

Radka Denemarková  (Foto: Šárka Ševčíková,  Archiv des Tschechischen Rudfunks)
Listig, ungebärdig, typisch tschechisch – so will die Autorin Radka Denemarková gerade nicht gesehen werden. Ihr Anspruch sei es, Weltliteratur zu schreiben. Das schließe allerdings nicht aus, dass sich in den verschiedenen Ecken der Welt unterschiedliche Vorlieben offenbaren.

„Das ist in Ordnung. Mit jedem Land korrespondiert ein anderes Buch. Als Autorin überrascht es mich das sehr, und es gibt auch Aufschluss über die Welt, dass die einzelnen Länder eben unterschiedliche Mentalitäten haben. Man weiß Gottseidank nie vorher, wie und wann und wo der Text reüssieren wird. Das muss eine Überraschung sein. Außerdem ist es bei meinen Texten auch so, dass ich als Autorin keine Ärztin bin. Ich bin der Schmerz, und meine Texte tun weh. Das ist mir wichtig, dass sie als Metapher wahrgenommen werden.“

Foto: Verlag Dva
Im deutschen Sprachraum hat Radka Denemarkovás Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ ins Schmerzzentrum getroffen. Er handelt von einer jungen KZ-Überlebenden, die nach der Rückkehr in ihre böhmische Heimat abermals verfolgt wird – nun wird sie als Deutsche von Tschechen vertrieben. 2006 wurde das Werk als bisher einziger von Denemarkovás Romanen ins Deutsche übersetzt. Andere Werke fanden dagegen Leser in Großbritannien oder Polen. Radka Denemarková:

„Mit jedem meiner Bücher nehme ich immer ‚Skelette aus dem Schrank‘. Die Deutschen haben Leichen im Keller, die Tschechen haben Skelette im Schrank. Alle Figuren, die ich mir also ausdenke, stecke ich in Situationen, deren Umstände ich gerne beobachten möchte. Und in gewisser Hinsicht ist das auch eine anthropologische Beobachtung.“

Michael Stavarič  (Foto: Manfred Werner,  Wikimedia CC BY-SA 3.0)
Neben ihrem eigenen Schreiben übersetzt Radka Denemarková auch aus dem Deutschen, unter anderem Herta Müller und Michael Stavarič. Während die Nachfrage für deutsche Literatur in Tschechien groß ist, finden umgekehrt jährlich nur 30 tschechische Bücher ihren Weg nach Deutschland, Fachbücher und Kinderliteratur eingeschlossen. Eine äußerst magere Zahl angesichts von insgesamt 7.500 Übersetzungen aus Fremdsprachen ins Deutsche. Zudem war Tschechien trotz der unmittelbaren Nachbarschaft noch niemals Gastland bei den Buchmessen in Frankfurt oder Leipzig. Und auch in der Havel-Bibliothek wurde zuletzt nicht über neue Autoren gesprochen, sondern über die Koryphäen, die längst zum Kanon der Weltliteratur gehören: Hašek und Kundera. Die Frage allerdings, ob Literatur nun originär „tschechisch“ sein soll oder doch lieber universal, die ergab für Jörg Plath am Ende wenig Sinn.

Jörg Plath  (Foto: Archiv des Hauses der Kulturen der Welt)
„Eigentlich wünschen wir uns ja, ein Tscheche oder eine Tschechin möge Weltliteratur schreiben – aber bitte weiterhin als Tscheche oder Tschechin erkennbar bleiben. Das ist natürlich genauso blöd, wie wenn Sie sich wünschen, dass jemand kommt, der als Deutscher schreibt, aber bitte sehr etwas schreibt, was Sie unmittelbar und zentral betrifft, und in einer Qualität, die ihn auch gar nicht mehr als Deutschen auszeichnet, sondern die etwas ganz wunderbares ist.“

Autor: Annette Kraus
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