„Die Moderne kam in rasendem Tempo“ – Reiner Stach über Kafkas Prag
Der Berliner Publizist und Literaturwissenschaftler Reiner Stach hat diesen Herbst den dritten und letzten Band seiner Kafka-Biographie vorgelegt. Hinter dem Biographen liegen nun 18 Jahre Arbeit, vor dem Leser dagegen 2000 Seiten spannend erzählter Lebensgeschichte. Ein Ziel von Stach war es, mit ein paar weit verbreiteten Mythen und Mystifizierungen aufzuräumen, die sowohl Kafka als auch dessen Heimatstadt Prag betreffen. Das „Mütterchen“, wie Kafka es einmal nannte, war nämlich zu Kafkas Lebzeiten keineswegs ein verschlafenes Habsburgernest, sondern ein pulsierender Motor der Moderne. Anlässlich der Vorstellung des Buches "Kafka - Die frühen Jahre" hat Radio Prag mit Reiner Stach gesprochen.
„Das hatte ganz pragmatische Gründe. Die Quellenlage für die frühen Jahre ist am schlechtesten. Ich und mein Verlag hatten uns erhofft, dass irgendwann einmal der Nachlass von Max Brod frei werden würde. Dann hätten wir eine wesentlich bessere Quellenlage gehabt, doch leider ist es dazu nicht gekommen. Aber in den langen Jahren, in denen ich nun auch über die frühe Zeit forschen konnte, hat sich herausgestellt, dass es sehr viele indirekte Quellen gibt, die man nutzen kann. Daher glaube ich, dass die Leser nichts vermissen werden.“
Befürchten Sie denn, dass in Zukunft noch viele Dinge auftauchen, die sie gerne noch zur Verfügung gehabt hätten?„Mittlerweile bin ich mir sicher, dass wir über viele Details mehr wissen werden, wenn der Max-Brod-Nachlass eines Tages frei wird. Ich glaube aber nicht, dass das Bild, das ich nun von Kafka gezeichnet habe, sich grundsätzlich ändern wird. Denn dazu habe ich zu viele andere Quellen, die den Text abstützen. Es gibt einige kleine Lücken, die man noch ausfüllen könnte, aber ich glaube nicht, dass es sich grundlegend verändern wird.“
Wie bewerten Sie im allgemeinen Brods Sicht auf Kafka?
„Max Brod war sehr wichtig als Lebensmensch für Kafka, wie man das im Deutschen so gerne sagt. Er war ein lebenslanger Unterstützer und Förderer. Ich glaube aber nicht, dass der Anspruch von Max Brod sozusagen ein Deutungsmonopol auf Kafka zu besitzen, heute noch Gültigkeit haben kann. Ich glaube im Gegenteil, dass seine Äußerungen zum Werk Kafkas, vor allem aus den 1930er und 1940er Jahren, letztlich ziemlich verfehlt sind und dass wir schon über dies Stufe hinaus sind. Kafka war ein Vertreter der Moderne, er war einer der Mitbegründer der deutschsprachigen Moderne. Das hat Max Brod in seinen Konsequenzen mit Sicherheit nicht realisiert.“
In ihrer Biographie, und vor allem im nun erschienen Band, portraitieren Sie nicht nur Kafka, sondern zeichnen auch ein genaues Bild von der Stadt Prag, viel mehr als Kafkas bisherige Biographen. Warum haben Sie sich dazu entschlossen?„Mir geht es nicht allein darum, einen möglichst differenzierten Hintergrund zu zeichnen – dieser Begriff trifft es auch nicht. Die Stadt Prag, das Leben hier und die Mentalität, das ist kein Hintergrund. Kafka ist mittendrin. Mein Vorgehen hat einen einfachen Grund. Es gab immer diese merkwürdige Vorstellung, dass Kafka zwar einer der Begründer der literarischen Moderne ist, dass diese Moderne aber mit seinem Umfeld nichts zu tun hatte, insofern als der herrschende österreichische Beamtenstaat etwas Vergangenes und Absterbendes gewesen sei. Man hat sich immer darüber gewundert, wie jemand so moderne und radikale Texte verfassen konnte, wenn er doch in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts lebte, die – wie man um 1900 schon gemerkt hat – keine Zukunft mehr hatte. Man hat daraus geschlossen, das müsse von innen gekommen sein, es müsse etwas mit Kafkas Psyche zu tun gehabt haben. Im Gegensatz dazu versuche ich zu zeigen, dass die Moderne bereits angebrochen war, und dass Kafka dies genau registriert hat. Er hat technische Entwicklungen genauestens registriert, er hat sich auch sehr für die sozialen Folgen von Technik interessiert. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass er hier in einer biedermeierlichen Gesellschaft gelebt hätte. Dieses Bild versuche ich zu korrigieren.“
Mit den technischen Entwicklungen war er also nicht nur als Angestellter der Arbeiterunfallversicherung konfrontiert, sondern hat sie auch schon als Kind mitbekommen?„Als Kind und als junger Mann. Als junger Mann war er beispielsweise oft im Kino. Als Kind hat er schon die allerneuesten technischen Errungenschaften auf den großen Ausstellungen hier gesehen, er hat die ersten Grammophone erlebt. Als Jugendlicher hat er miterlebt, wie in Prag das Telefonnetz allmählich in die Privatwohnungen eindringt. Die sozialen Folgen davon kann man sich heute nicht mehr vorstellen, wie es ist, wenn plötzlich dieser Kasten im Wohnzimmer steht, dass man sogar mit Leuten sprechen kann, die sich im Ausland befinden. Er hat miterlebt, wie die ersten Autos hier auftauchten, wie plötzlich die Zahl der Pferde immer geringer wurde, weil man sie nicht mehr brauchte. Und lauter solche Dinge. Die Moderne war hier auf dem Vormarsch, in einem rasenden Tempo. Das heißt, praktisch jedes Jahr wurden die Leute mit irgendeiner neuen technischen Entwicklung konfrontiert. Stadtbeleuchtung ist auch so ein Thema. Denn es ist ja ein Riesenunterschied, ob abends um zehn oder elf Uhr die Gaslaternen ausgestellt werden, oder ob der gesamte Altstädter Ring von elektrischem Licht beleuchtet ist. Das bedeutet nämlich auch, dass die Schaufenster elektrisch beleuchtet waren. Man konnte spätabends flanieren und immer noch etwas sehen – wie in Paris. Paris und London waren natürlich die Vorbilder. Das hat Kafka alles als Jugendlicher und junger Mann miterlebt.“
Wie haben Sie sich diesen Ereignissen angenähert, welche Quellen haben Sie verwendet?„Dass es zum Beispiel diese große Ausstellung (die ‚Prager Jubiläumsausstellung‘, eine Industrieschau im Jahr 1891, Anm. d. Red.) gab, als Kafka acht Jahre alt war, das war bereits vorher bekannt. Ich habe mir dann einen Katalog beschafft, in dem genau zu sehen war, wer dort ausgestellt hat, und welche Geräte zu sehen waren. Welche Bedeutung das aber hatte, kann man erst ermessen, wenn man die damaligen Tageszeitungen liest. Damals gab es in Prag wirklich sechs, acht Monate lang kein anderes Thema mehr. Es war hier das Ereignis des Jahrzehnts, wenn nicht des Jahrhunderts. Alle Leute sagten, das sei nun der Fanfarenstoß, hier breche eine neue Epoche an. Und die Beamten der Stadt, sozusagen die Stellvertreter der Habsburger aus Wien, haben das auch gemerkt, dass etwas auf sie zukommt, das möglicherweise das gesamte politische System in Frage stellt. Denn dem habsburgischen Regime hat man nicht zugetraut, das alles noch beherrschen und in den Griff bekommen zu können. Es waren übrigens auch überwiegend tschechische Fabrikanten, die das vorangetrieben und forciert haben. Man muss einfach sehr viel damalige Tagespresse und Zeitschriften lesen. Das habe ich getan. Für mich ist das heute auch einfacher als für alle anderen Biographen vor mir, denn man kann diese Sachen online lesen. Es gibt ein wunderbares Projekt der österreichischen Staatsbibliothek, die das alles nach und nach digitalisiert. Mittlerweile sind das wohl 20 Millionen Seiten, die man auf jedem PC aufrufen kann. Man muss nur die Zeit haben, das zu lesen und zu studieren. Das Material ist aber in einer unglaublichen Fülle vorhanden.“
Wieviel Zeit haben Sie eigentlich selbst in den vergangenen Jahren für Ihre Forschungen in Prag verbracht?„Ich habe gar nicht so viel Zeit hier verbracht, weil ich nicht so sehr darauf angewiesen war, hier zum Beispiel lange in Archiven zu sitzen. Das haben andere schon vor mir getan. Viel Material, das hier in Archiven liegt, war bereits aufbereitet. Ich war natürlich im Kloster Strahov, im tschechischen Literaturmuseum. Ansonsten war es für mich sehr wichtig, bestimmte Orte, die relativ unverändert sind, mit eigenen Augen zu sehen. Zum Beispiel den Baumgarten, wo die Industrieausstellung war, da stehen heute noch die Ausstellungsgebäude. Oder Žižkov, weil Kafka in seinem Werk die Arbeiterviertel und die Mietshäuser, in denen Arbeiter lebten, ausführlich beschrieben hat. Kafka war übrigens oft in diesen Arbeitervierteln, einerseits aus beruflichen Gründen, andererseits, weil er an einer Fabrik beteiligt war, die sich im Familienbesitz befand. Kafka hat sich also nicht immer nur hier in der Innenstadt bewegt. Man muss schon viel in Prag herumfahren, um alles zu sehen, was für ihn wichtig war. Auch Troja war wichtig für ihn, da war ein Gartenbetrieb, in dem er manchmal mitgearbeitet hat. Dorthin ist er oft und sehr gerne gefahren. Dann gibt es außerhalb der Stadt eine ganze Reihe sogenannter Sommerfrischen, die ich mir auch angesehen habe. Zum Teil sind sie nicht sehr verändert, man kann sich schon ein Bild machen. Die Familie hat, als Kafka jung war, möglichst nahe der Stadt ihre Sommer verbracht. Von dort aus konnten sie immer mal wieder in ihr Geschäft fahren und gucken, ob dort alles in Ordnung ist. Sie wollten natürlich ihr Geschäft kontrollieren und nicht anderen überlassen. Diese Orte kann man sich alle ansehen, und das habe ich gemacht. Ich war also immer mal wieder eine Woche in Prag.“
Vielleicht haben Sie schon gesehen, dass es in der Prager Innenstadt vor dem Einkaufszentrum Quadrio ein neues Denkmal gibt, einen riesigen Kafka-Kopf von David Černý. Wie gefällt Ihnen denn generell das Bild von Kafka im Prag von heute?„Was mir außerordentlich gut gefällt, ist das Kafka-Denkmal (in der Straße Dušní in der Prager Altstadt, Anm. d. Red.), weil es wirklich etwas ganz Wesentliches auf den Begriff bringt. Der Kafka, der auf den Schultern seines Vaters reitet, symbolisiert natürlich eine Abhängigkeit vom Vater. Er geht nicht auf eigenen Beinen, sondern sitzt auf den Schultern des Vaters. Anderseits geht sein Blick weiter als der des Vaters, weil er ja oben ist. Er sieht also mehr. Und außerdem hat der Vater keinen Kopf. Das heißt, die Figur, auf der Kafka sitzt, symbolisiert zwar Macht, deshalb ist der Körper auch so groß. Aber sie symbolisiert zudem Individualität. Kafka hatte vor der Individualität des Vaters keine Angst, sondern vor dessen Position. Dass jemand so erfolgreich war, eine Familie großgezogen hat und am Ende seines Lebens auf eine Erfolgsbilanz verweisen konnte, das war für Kafka einschüchternd. Während ihm die individuellen Züge des Vaters hingegen ab und zu auch lächerlich erschienen. Was ich sagen will, dieses Denkmal bringt wirklich außerordentlich genau auf den Begriff, wie die Abhängigkeit zwischen den beiden war. Dieses Problem ist wirklich wunderbar gelöst. Dagegen kann ich mit der Figur vor dem Kafka-Museum überhaupt nichts anfangen. Die finde ich eher ein bisschen albern.“
Wenn Sie geahnt hätten, dass es 18 Jahre dauert, würden Sie sich dann nochmal auf dieses Projekt einlassen?„Ich würde es so sagen: Die Entscheidung war richtig. Jetzt hätte ich wahrscheinlich nicht mehr die Energie. Wenn ich jetzt ein neues Projekt anfangen würde, und schon wüsste, dass ich 18 Jahre bräuchte – das kann ich mir nicht vorstellen. Das nächste Projekt wird auf jeden Fall kleiner und überschaubarer werden. Ich werde sicher wieder über die Zeit von 1880 bis 1920 schreiben. Da kenne ich mich nun sehr gut aus, und ich habe einige Dinge entdeckt, über die ich gerne mehr sagen würde. Aber ein Projekt für 18 Jahre? Das kann ich mir im Moment nicht vorstellen. Ich glaube, so etwas macht man nur einmal im Leben.“
Wir haben darüber gesprochen, dass Sie in Ihrer Biographie auch das Bild von Prag entmystifizieren wollten. Wie hat sich denn ihr Bild von Kafka in den vergangen Jahren verändert?„Mein Bild hat sich, wie ich schon mehrmals geäußert habe, insofern verändert, dass Kafka mir nun wesentlich stärker vorkommt. Diese entscheidungsschwache Figur, dieser schwache Neurotiker, der so abhängig ist… Immer wieder wird zitiert, dass er so lange bei den Eltern wohnte. Daraus wird geschlossen, dass er eine schwache Figur war. Ich glaube, das alles können wir vergessen. Kafka war keine schwache Figur. Er hat zum Teil unter unglaublichen äußeren Bedingungen gearbeitet, unter denen fast jeder von uns kapitulieren würde, weil sie einfach unmenschlich waren. Vor allem natürlich während des Krieges, und auch als er an Tuberkulose erkrankt war, hat er immer noch diszipliniert an seinen Texten weitergearbeitet. Er hat immer wieder versucht, einen neuen Anlauf zu nehmen, obwohl er schon mehrere gescheiterte literarische Projekte hinter sich hatte. Also, eine schwache Figur war das nicht.“
Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre, S.Fischer Verlag, 608 Seiten.