Berthold Franke: „Die Kategorie der Nachbarschaft wird unterschätzt“
Am rechten Ufer der Moldau, unweit des Nationaltheaters, steht das Gebäude des Prager Goethe-Instituts. Früher, zur Zeit des Kalten Krieges, war hier die Botschaft der DDR untergebracht – inklusive abhörsichere Stahlkammer im Dachgeschoss. Wenn die Architektur des Hauses bisweilen auch heute noch etwas abweisend wirkt, so entspricht dies doch längst nicht mehr seinem neuen Innenleben: Seit Beginn der 1990er Jahre versucht hier das Goethe-Institut, dem Prager Publikum die Tore zur deutschen Sprache und Kultur zu öffnen – mit jener historisch und geopolitisch begründeten Umsicht, deren wichtigstes Wesensmerkmal nicht der Kulturexport ist, sondern der Dialog. Seit Februar hat das Goethe-Institut mit Berthold Franke einen neuen Direktor. Radio Prag hat ihn vors Mikrophon gebeten.
„Zunächst bin ich einmal viel gereist, weil ich als Regionalleiter nicht nur für Tschechien zuständig bin, sondern auch für eine Region, die beim Goethe-Institut Mittelosteuropa heißt. Da geht es neben Tschechien auch um die baltischen Länder, um Polen, Ungarn, die Slowakei und Slowenien. Ich musste viel reisen, um mich erstmal auch dort vor den Kollegen zu zeigen. Jetzt ist Frühling in Prag, ich bin von den Reisen zurück und wieder einmal völlig berührt von der Schönheit der Stadt. Außerdem gibt es sehr viel zu tun: Ich lerne laufend Menschen kennen, lerne Kollegen kennen und bewege mich ein bisschen durch diese Szenerie, die hinter der Schönheit auch ganz viel Dynamik hat. Und ich versuche es ein bisschen mit der tschechischen Sprache. Das sind also sehr intensive Momente.“
Können Sie kurz ihre Biographie skizzieren? Sie sind schon langjähriger Mitarbeiter des Goethe-Instituts. Wo haben Sie begonnen?„Mein erster Posten war 1990 / 91 in Warschau, mit dem ersten Team, das nach Polen ging. Das waren ganz spannende, wilde Zeiten. Die Erinnerung daran bewegt mich auch jetzt wieder. Mitte der Neunzigerjahre war ich dann in Afrika, im Senegal, danach in München, wo die Zentrale des Goethe-Instituts ist, dann kam Stockholm, dann Paris, dann Brüssel und jetzt bin ich hier.“
Wenn wir auf die Rolle Prags blicken: Ich könnte mir vorstellen, dass die geographische und kulturelle Nähe einerseits ein Vorteil ist, aber andererseits auch Nachteile bringt. Gibt es etwa Stereotypen, die Sie überwinden müssen, und die es in anderen Ländern nicht gibt? Wo liegt für Sie die spezielle Rolle der Tätigkeit für ein Goethe-Institut in einem Nachbarland?
„Das ist ein Riesenthema. Ich glaube, dass die Kategorie der Nachbarschaft unterschätzt wird. Je mehr man darüber nachdenkt, desto spannender wird das. Nachbarschaft ist nichts Unproblematisches. Nachbarschaft ist nicht unbedingt Gemeinschaft und Gemeinsamkeit, sondern Nähe, die auch Differenz erzeugt. Nachbarn kennen einander oft viel schlechter, als sie meinen. Nachbarn haben etwas Gemeinsames, aber das muss oft erst in gewisser Rivalität erworben werden. Denken Sie mal an die komplizierte Nachbarschaft der Deutschen und der Österreicher: Die haben so viel gemeinsam, und dennoch sagt man immer, was sie trenne, sei die gemeinsame Sprache. Diese Sprüche kennen Sie. Sigmund Freud hat – allerdings im Zusammenhang mit Antisemitismus – vom Narzissmus der kleinen Differenz gesprochen. Wenn die Differenz groß ist, wenn wir uns in allem unterscheiden, dann haben wir es vielleicht leichter miteinander, als wenn wir feststellen, dass wir doch einiges gemeinsam haben. Wir möchten aber nicht miteinander verwechselt werden, wir möchten nicht, dass der andere vielleicht etwas besser kann als wir. In diesen narzisstischen Größen liegt ein wichtiges kulturelles Potential. Außerdem möchte ich noch etwas Politisches hinzufügen: Vor einigen Jahren haben wir vielleicht geglaubt, dass die ökonomische und politische Zukunft in fernen Ländern, etwa in China und in Indien zu gewinnen sei. Heute sehen wir etwas präziser, dass die europäische Nachbarschaft ein hohes Gut ist, das jedes Mal neu erworben werden muss, und dass die Arbeit eines Goethe-Instituts in einem Nachbarland deswegen ganz große Privilegien hat.“Kommen wir auf die konkrete Tätigkeit des Goethe-Instituts zu sprechen. Ich habe den Eindruck, dass es im Programm zwei große Linien gibt: die Verbreitung der deutschen Kultur im Ausland, und dann noch einen speziellen Aspekt der deutschen Kultur, nämlich die deutsche Sprache. Ist das eine gültige Unterscheidung? Gerade in letzter Zeit setzt sich das Goethe-Institut sehr für den Deutschunterricht in Prag ein, aber es bringt natürlich auch Kulturereignisse nach Tschechien. Wie sehen Sie da die Gewichtung?„Das sind die klassischen Gebiete, in denen wir arbeiten. Unser Motto heißt ‚Sprache. Kultur. Deutschland‘. Die Arbeit des Goethe-Instituts hat in den 50er und 60er Jahren mit der Sprache angefangen. Da ging es vor allem darum, all jenen, die Deutsch lernen wollten, Kurse anzubieten, und später auch mit denen zusammenzuarbeiten, die sich in den jeweiligen Gastländern für Deutsch einsetzen. In einem weiteren Schritt kam dann die Überlegung, dass wir mit unserer Kultur, mit der dynamischen deutschen Kulturszene in den Dialog mit anderen Ländern und deren Szenen treten wollen. Es ist ganz einfach: Deutschland ist ein global operierendes Land. Wir wollen überall unsere Industrieprodukte verkaufen, und präsentieren uns da auch ganz erfolgreich. Aber ich glaube, man kann das alles nicht ohne Freunde machen. Die Idee ist, mit Sprache, Kultur und durchaus auch mit einem selbstkritischen Blick auf das, was aus Deutschland kommt, dauerhaft Freunde zu gewinnen. Das hat sich als Erfolgsrezept erwiesen.“
Kommen wir noch zu konkreten Programmschwerpunkten. Was planen Sie gerade?„Für dieses Frühjahr haben wir etwas ganz Schönes und Spannendes. Das kann ich besonders freudig bewerben, weil es noch meine Vorgänger angefangen haben: Am 23. Mai eröffnen wir mit der Stadt Prag zusammen eine Ausstellung im Prager Rathaus. Das ist eine ganz großartige, symbolische Sache: Es ist das erste Mal, dass ein besonders bedeutendes Manuskript, das aus Prag stammt, wieder in die tschechische Hauptstadt zurückkommt – nämlich das Manuskript von Kafkas ‚Prozess‘. Dieses Manuskript liegt im Marbacher Literaturinstitut im Archiv. Wir machen eine Ausstellung mit Originalteilen aus diesem Manuskript. Gleichzeitig mit der Ausstellung, die für alle, die mit Kafka oder moderner Literatur etwas zu tun haben, sehr berührend sein wird, machen wir auch eine kleine Recherche in Form von anderen Aktionen zu Kafka – nach dem Motto: Ist Kafka hier nur noch ein Emblem, eine gestrige Gestalt, eine Postkarte? Oder gibt es eine neue Leserschaft, eine neue Rezeption von Franz Kafka in Tschechien und in Prag? Das ist ein echtes Highlight.“
Wenn ich mir Ihr Programm ansehe, dann sehe ich auch viele Verweise auf Regionen. Sie haben in Prag ein sehr schönes, großes Haus, in dem Sie Veranstaltungen anbieten können, und Sie haben die Ausstellung des Kafka-Manuskripts im Prager Rathaus angesprochen. Ich glaube, es gibt aber auch Bemühungen, dezentraler zu sein und auch in anderen tschechischen Städten Kulturveranstaltungen zu präsentieren.„Absolut. Tschechien ist ja nicht so ein großes Land, und wir haben hier einige hochinteressante Kulturstädte. Zunächst mal ist es unsere Aufgabe, das Haus in Prag zu öffnen. Das ist gar nicht so leicht. Es hat diese große Messingtür, die mir manchmal vorkommt wie ein Tresor, dessen Kombination man kennen muss. Wir tun auch gut daran, beim Theaterfestival oder beim jährlichen Filmfestival mit guten Partnern durch die Stadt zu gehen. Mit den Filmen des Filmfestivals gehen wir jedes Jahr auch nach Brünn. Momentan läuft bei uns auch eine intensive Vorbereitung auf die Kulturhauptstadt Pilsen nächstes Jahr. Diese Dinge sind immer auch abhängig den von Partnern und deren Interessen, aber gerade mit den beiden genannten Städten haben wir enge Kooperationen, wir haben Partnerbibliotheken und wir haben an vielen Stellen Freunde, die uns bitten, auch aus Prag rauszukommen. Wenn wir so viel Zeit und Geld hätten, wie wir wollten, dann würden wir das sicher noch intensiver tun.“
Zum Schluss würde ich gerne auf die Kommunikationskanäle zu sprechen kommen, über die Sie versuchen, die Öffentlichkeit in Tschechien zu erreichen. Im Rahmen der Internetseite des Goethe-Instituts gibt es zum Beispiel „Jádu“, eine Plattform für ein junges Publikum. Já ist Tschechisch für ich, der Name Jádu ist sozusagen die Verknüpfung des Tschechischen und des Deutschen, des Ich und des Du. Außerdem treten Sie in sozialen Netzwerken auf. Sie sind ja schon lange im Goethe-Institut dabei. Wie nehmen Sie die Veränderungen auf diesem Gebiet wahr?„Das ist ein ganz spannender Prozess, und man muss da absolut lernfähig bleiben. Die Welt verändert sich, unterschiedliche Generationen haben ein unterschiedliches Mediennutzungsverhalten. Im elektronischen Bereich machen wir jetzt sicherlich mehr als früher. Früher genügte es, Postkarten oder schöne Drucksachen über einen Verteiler zu verschicken. Wenn Sie heute nicht bei Facebook oder anderen sozialen Medien vertreten sind, wenn Sie auf Ihren Internetseiten nichts tun, außer Ihre Adresse und Ihre Telefonnummer anzugeben, dann verlieren Sie systematisch Publikum. Jádu ist ein gutes Beispiel: Wir machen das für junge Nutzer, die gerade in dem Alter sind, wo sie Fremdsprachen auswählen und in diesem Kontext vielleicht mit Informationen aus dem deutschen und tschechischen Bereich konfrontiert werden. Ich bin ein Mann meiner Generation, das heißt nicht mehr so richtig jung, und insofern muss ich mich da immer auch von den Jüngeren beraten lassen. Ich stelle allerdings fest, dass diese sozialen Medien, wie immer sie heißen und was immer sie tun, wohl weniger dazu geeignet sind, Inhalte zu transportieren, als Gemeinschaften zu bilden. Wenn Sie bei Facebook sind, wissen Sie, was im Goethe-Institut läuft. Das ersetzt aber nicht die Teilnahme an den Dingen, die wir dort tun. Bei aller Euphorie für die digitalen Welten: Am Ende kommt es immer auch darauf an, Menschen zusammenzubringen. Deshalb haben wir auch noch Häuser, etwa dieses wunderbare Haus hier in Prag, wo Menschen sich treffen. Aus allen Evaluationen und Analysen geht das eindeutig hervor: Am Ende zählt immer noch, dass Menschen einander begegnen, mit allen Missverständnissen und Verständnismöglichkeiten. Die digitalen Begegnungen haben einen anderen Charakter, andere Reichweiten und andere Transportgeschwindigkeiten. Wir tun das eine, ohne das andere zu lassen, und wissen, dass es am Ende auf die Menschen ankommt.“
Sie haben erzählt, dass sie früher in Afrika waren. Da gab es wahrscheinlich überhaupt andere Voraussetzungen.„In Afrika hat man als erstes ein großes Banner über die Straße gezogen. Da musste man für, glaube ich, zwanzig französische Francs die Erlaubnis kaufen, und dann wurde auf Leinwänden groß gepinselt, was am Abend los war. Gelegentlich haben wir auch einen Crieur Public, einen öffentlichen Ausrufer engagiert. Der ist dann ums Haus gezogen und hat getrommelt, und am Abend war die Bude voll, weil alle von ihm erfahren hatten, was es ab 19 Uhr im Goethe-Institut gibt.“