„Hinwendung zu Tschechien“ – Journalist Pasch über die dritte sudetendeutsche Generation
Für viele Sudetendeutsche war die Vertreibung aus Böhmen, Mähren und Schlesien ein traumatisches Erlebnis. Das hatte auch politische Auswirkungen: Die Vertriebenenverbände, allen voran die Sudetendeutsche Landsmannschaft, wandten sich in der Vergangenheit immer wieder gegen bestimmte Schritte der Aussöhnung – zum Beispiel gegen den Ostvertrag mit Prag. Mittlerweile steht die dritte Generation der Sudetendeutschen mitten im Leben. Sie hat die Vertreibung selbst nicht erlebt. Wie sieht sie die gemeinsame tschechisch-deutsche Geschichte und die Heimat ihrer Vorfahren? Das war eine der Fragen, die der Journalist Ralf Pasch einigen Vertretern dieser Generation gestellt hat. Pasch, der selbst aus einer sudetendeutschen Familie kommt, hat aber auch Tschechen derselben Altersgruppe befragt. Gegenüber Radio Prag erläutert Ralf Pasch die Ergebnisse seiner Forschungsarbeit.
„Ich habe die Altersgruppe bewusst sehr breit gewählt. Dieser Begriff der dritten Generation ist bei mir gefasst von etwa 20 bis ungefähr 50 Jahren, um nachher eine bessere Auswahl zu treffen. Neben dem Alter gab es tatsächlich weitere Aspekte, die für mich wichtig waren. Ich habe für die deutsche Seite versucht, das ganze Spektrum abzudecken, das es innerhalb der Sudentendeutschen Landsmannschaft gibt. Ich habe aber auch mit Menschen gesprochen, die sich ‚privat’ mit dem Thema beschäftigen, darunter Leute aus der ehemaligen DDR sowie Westdeutschland. Auf tschechischer Seite ging es auch um Menschen, die in irgendeiner Form professionell mit dem Thema zu tun haben.“
Wie sieht die dritte sudetendeutsche Generation die Vertreibung ihrer Großeltern und Urgroßeltern aus Böhmen und Mähren?„Es gibt einen Ausspruch von dem Soziologen Karl Mannheim, der besagt, dass es der Jugend durch ihren größeren Abstand zu den historischen Ereignissen leichter fällt, das Leben zu meistern. Daraus leitete sich auch eine Fragestellung für mich ab: Inwieweit ist es durch diesen Abstand möglich mit den Ereignissen umzugehen, und wie ist die Art und Weise des Umgangs? Es ist tatsächlich so, dass es der Abstand einerseits ermöglicht, sich sehr intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen, aber andererseits auch dazu führt, dass die Befragten eine etwas entspanntere Haltung einnehmen können als die Erlebnisgeneration oder die zweite Generation.“
Welche Einstellung hat diese Generation zum heutigen Tschechien? Gibt es noch eine Art besonderen Bezug zu der Heimat der Vorfahren?
„Interessant ist, dass es bei einigen dieser Personen nicht nur einen starken Bezug gibt, sondern auch die Problematik und Frage der Identität. Bei der zweiten Generation war es sehr deutlich, dass es nach der Vertreibung in der neuen Heimat noch eine Stigmatisierung gab, selbst wenn die zweite Generation schon in Deutschland geboren wurde. So etwas Ähnliches habe ich bei meinen Interviewpartnern auch erlebt. Sie fragen sich, wo ihre Heimat ist, ob sie Deutscher oder Sudentendeutscher sind, und was sie mit der Heimat ihrer Großeltern noch verbindet. Einerseits existiert bei den Vertretern der dritten Generation also eine starke Hinwendung zu dieser ‚alten Heimat’, aber auch die Fragstellung danach‚wer sie eigentlich sind. Das ist natürlich mit einer intuitiven Auseinandersetzung mit dem heutigen Tschechien verbunden.“Sie stammen selbst aus einer sudetendeutschen Familie. Haben Sie Ihre eigenen Einstellungen auch bei den Gleichaltrigen aus anderen Vertriebenen-Familien wiedergefunden?„Ich habe mich sowohl in den Antworten wiedergefunden sowie in den Fragen, die sich diese Leute stellen. Meine Großeltern kommen beide aus Nordböhmen und ich bin sehr stark durch ihre Erzählungen geprägt worden. Mein Großvater hat auch seine Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Es war für mich erstaunlich, dass ich selbst viele Erfahrungen gemacht habe, von denen mir meine Interviewpartner berichtet haben, und ich mich sehr oft in diesen Gesprächen wiedergefunden habe.“
Bei den Tschechen hat Sie vor allem interessiert, welche Einstellung Sie zu Deutschen haben und zum deutschen Teil der Geschichte in ihrem Land. Was haben Sie da herausbekommen?„Da gibt es wie bei allen Themen verschiedene Aspekte. Der Eine ist, dass durch den Abstand, den die dritte Generation zu den Ereignissen hat, offenbar auch auf der tschechischen Seite eine gewisse ‚Entspanntheit’ vorhanden ist. Aber andererseits gibt es auch ein viel größeres Interesse und eine stärkere Hinwendung, als bei ihren Eltern. Dabei geht es natürlich auch um die Fragen, ob die Vertreibung richtig oder falsch war, was genau passiert ist und was danach kam. Mindestens genauso stark ist das Interesse für das Verhältnis von Deutschen und Tschechen vor der Vertreibung. All diese Jahrhunderte waren immer irgendwie konfliktgeladen, aber es fand auch eine Menge Austausch und gegenseitige Befruchtung statt. Es wurde in den Gesprächen immer wieder betont, dass es nicht nur um die Vertreibung geht, sondern auch um die Zeit davor - mit all ihren Schwierigkeiten. Für beide Seiten kann man sagen, dass auch die Gegenwart, und vor allem die Frage nach einem Umgang mit dem schwierigen Erbe in Zukunft, wichtig ist.“
Bei den Vertretern der deutschen Minderheit in Tschechien ist sicher interessant, wo sich ihre Ansichten eher mit denen von sudetendeutschen Familien decken und wo eher mit denen von tschechischen Familien…„Vielleicht muss man zunächst einmal sagen, dass es innerhalb der deutschen Minderheit der Tschechoslowakei und des heutigen Tschechiens verschiedene Gruppierungen mit unterschiedlichen politischen Ansichten gab. Das war teilweise eine sehr schwierige Situation: Zunächst gab es den Kulturverband, nach 1989 entstand als eine weitere Organisation die Landesversammlung. Es scheint eine lange Phase gegeben zu haben, in der man sich finden musste. Ich glaube diese Phase ist auch immer noch nicht abgeschlossen, obwohl so viele Jahrzehnte seit Kriegsende vergangen sind. Ich versuche in dem Buch auch diesen Prozess abzubilden. Teilweise herrscht eine sehr starke Distanz zur Landsmannschaft. Man grenzt sich ab und will sich zunächst um die Probleme vor Ort kümmern. Die deutsche Minderheit kann zum Teil den politischen Forderungen der Vergangenheit nicht folgen und hat ganz andere Themen. Zum Beispiel konzentriert sie sich stärker auf das, was hier passiert. Dieses Phänomen tritt in allen Gruppierungen auf, die innerhalb der Minderheit existieren.“
Sie wollen ein Buch zu ihren Forschungen und Gesprächen herauszugeben. In welcher Weise soll das Thema dargestellt werden?
„Es ist geplant, in dem Buch 15 Porträts zu veröffentlichen. Darunter sind sieben Porträts aus Deutschland, sieben aus Tschechien und eines aus Österreich. Österreich ist ja auch stark mit dem Thema verbunden. Über diese rein biografischen Geschichten hinaus, versuche ich auch verschiedene Organisationen, Projekte und Gruppierungen abzubilden. In einigen der Texte wird es also darum gehen, was die sudentendeutsche Jugend, die Ackermann- oder die Seliger-Gemeinde heute machen - beziehungsweise, auf welche Weise tschechische Initiativen und Organisationen sich heute mit diesen Themen auseinandersetzen. Das heißt, das Buch ist eine Mischung aus Porträts und kleinen historischen Exkursen, die mit der jeweils porträtierten Person in Verbindung stehen.“
Wie weit sind die Arbeiten zu dem Buch, und denken Sie auch an eine tschechische Ausgabe?„Die Arbeit ist weitestgehend abgeschlossen, das Manuskript steht. Das Buch soll voraussichtlich im Frühjahr 2013 im Mitteldeutschen Verlag in Halle erscheinen. Darum bin ich guter Dinge, dass es demnächst zu einem Ergebnis kommt. Es gab schon zu Beginn der Arbeit Gespräche darüber, eine tschechische Übersetzung anzufertigen. Mein Interesse daran ist sehr groß. Ich würde es sehr gut finden, wenn das Buch auch für das tschechische Publikum lesbar gemacht werden könnte. Ich werde auf alle Fälle versuchen, eine tschechische Übersetzung herauszubringen.“