„Kleine Gesten können große Wirkung entfalten“ – Politologe Schuster über Gaucks Brief zu Lidice
Das vergangene Wochenende stand in Tschechien ganz im Zeichen des Gedenkens an den 70. Jahrestag des Massakers im mittelböhmischen Lidice und später im ostböhmischen Ležáky. Die Nazis ließen damals als Rache für das erfolgreiche Attentat auf den stellvertretenden Reichsprotektor Reinhard Heydrich alle männlichen Einwohner dieser beiden Dörfer erschießen, die Frauen und Kinder wurden verschleppt und beide Orte niedergebrannt. Aus Anlass des Gedenkens schickte der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck seinem tschechischen Amtskollegen Vaclav Klaus einen offiziellen Brief, in dem er im Namen Deutschlands seine tiefe Betroffenheit und Scham angesichts dieser Gräueltaten ausgedrückt hat. Ausdrücklich hob der Bundespräsident den Mut der Heydrich-Attentäter und deren Vorbildcharakter hervor.
„Ich denke, sehr viel, denn es sind ja oft diese ‚kleinen Gesten’, die große Wirkung entfalten können. Denn obwohl sich die bilateralen Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland in den letzten 10 bis 15 Jahren sehr positiv entwickelt haben, die Wirtschaftsbeziehungen also florieren, es zu einem sehr regen Kulturaustausch kommt und sich auch die Jugendlichen beider Länder gegenseitig austauschen und besuchen, noch irgendetwas fehlt. Gerade bei offiziellen Anlässen, wenn zum Beispiel Politiker oder Spitzenvertreter beider Länder zusammenkommen, hat man oft den Eindruck, dass es über das Offizielle nicht hinausgeht, dass es unterkühlt ist und ein gewisser Esprit fehlt. Und da könnte eben Joachim Gauck sehr viel bewirken, und zwar nicht nur mit dem Brief, sondern auch generell mit seinem Zugang zur Politik, indem er vorlebt, wie man das Verhältnis zwischen zwei Nachbarstaaten gut regeln kann. Es muss auch festgestellt werden, dass kein deutscher Spitzenpolitiker vor Gauck sich soweit hinausgewagt hätte, indem er in einer per Brief verfassten Erklärung diese Ereignisse von Lidice und Ležáky so offen als Massaker und als Terrorakte bezeichnet hat. Zudem hat Gauck den Widerstand gegen das NS-Regime besonders gewürdigt.“
Bei den tschechischen Reaktionen war auffallend, dass sich insbesondere viele Historiker sehr angetan von Gaucks Formulierungen zeigten. Wie ist das zu erklären?„Das hängt damit zusammen, dass sich in den letzten zehn Jahren die tschechische Geschichtsforschung mit dem Protektorat Böhmen und Mähren und dem Widerstand intensiv auseinandergesetzt hat. Es wurden auch viele neue Sichtweisen gefunden, denn das Thema war vor 1989, während des Kommunismus, stark ideologisiert. Damals gab es nur den kommunistischen Widerstand, nur die kommunistischen Widerstandskämpfer wurden gewürdigt. Widerstand von anderer Seite wurde verschwiegen. Mittlerweile ist es den tschechischen Historikern gelungen zu zeigen, dass der Widerstand gegen die Nazis sehr weit verbreitet war, dass wirklich weite Teile der tschechischen Gesellschaft sich daran beteiligt haben. Damit wurde das Bild korrigiert, das auch viele deutsche Historiker zuvor gezeichnet haben: So sollen die Tschechen in den Jahren 1939 bis 1945 vor allem kollaboriert haben. Doch das stimmt nicht. Insofern fühlen sich auch die Historiker von Gauck in gewisser Hinsicht gewürdigt.“
Es wurden aber auch Stimmen laut, die darauf hinwiesen, dass man selbst mit gut gemeinten Worten des Bedauerns und der Entschuldigung nicht das Leid von damals aufwiegen kann. Sind das Einzelmeinungen, oder geben sie eine bestimmte Haltung in der tschechischen Öffentlichkeit wieder?„Ich glaube, dass sind tatsächlich Einzelstimmen. Sie wurden von Menschen geäußert, die direkte Nachkommen der Opfer aus der damaligen Zeit sind. Es sind also Menschen, die eine eigene Erfahrung damit haben, die das mit sehr plastischen Erinnerungen verbinden. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass in Tschechien immer wieder auch hervorgehoben wird, wie sich Deutschland, wie sich die Deutschen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, und dass sie das offensiv angehen. Das wird auch häufig als ein gewisses Modell für andere Länder einschließlich Tschechien hervorgehoben und gewürdigt. Vielleicht aber noch eine andere Anmerkung: Es gab wenige Wochen vor diesem Gedenktag einen Marsch, den die Tschechin Milana Městecká organisiert hat. Es war ein Gedenkmarsch für die Frauen von Lidice, denen es 1945 gelang, aus dem KZ Ravensbrück zu fliehen, und die sich auf den Marsch in Richtung Heimat, in Richtung Lidice begeben haben. Es war ein Marsch unter sehr widrigen Verhältnissen. Frau Městecká hat diesen Marsch schon das zweite Mal praktisch simuliert – sie ist dieselbe Strecke gegangen. Und sie hat erzählt, wie offen eben gerade in Deutschland die Reaktionen auf den Marsch und diese Art des Gedenkens waren. Und es waren Reaktionen von einfachen Leuten, die so positiv waren. Das zeigt, dass in Deutschland diese Haltung auch wirklich sehr weit verbreitet ist.“