Prager Frühling 1968 begann im Januar: der moskautreue Parteichef Antonín Novotný musste gehen
Der tschechoslowakische Staatspräsident Antonín Novotný steht eher selten im Fokus historischer Betrachtungen. Dabei war er fast 15 Jahre lang auch Erster Sekretär des Zentralkomitees der KPTsch und damit ranghöchster Mann in der kommunistischen Staatspartei. In den politischen Chefposten wurde Novotný im September 1953 gewählt. Vier Jahre später gelang es ihm zudem, auch das prestigeträchtige Amt des Staatsoberhauptes für sich zu erringen. Novotný galt als moskautreuer Apparatschik, doch unter seiner Führung erlebt die Tschechoslowakei die „Goldene Sechziger“. Politologen bezeichnen dies als ein Widerspruch. Als dann die Reformbewegung des so genannten Prager Frühlings begann, musste der unterdurchschnittlich gebildete Staatsführer seine beiden Funktionen niederlegen. Vor dem Hintergrund seiner politischen Laufbahn spiegelt sich ein ganzes Kapitel der tschechischen Geschichte wieder.
Nach dem Krieg wurde Antonín Novotný leitender Sekretär der Prager KP und nahm im Februar 1948 aktiv an der Machtübernahme durch die Kommunisten teil. 1951 wurde er Mitglied des Zentralkomitees der KPTsch. Zielstrebig verfolgte er nun weiter seine Parteikarriere mit dem Ziel, ganz an die Spitze zu gelangen. Das gelang bereits zwei Jahre später: Novotný avancierte zum Ersten Parteisekretär - so damals der offizielle Titel des obersten Parteifunktionärs und faktischen Landesherrschers. Novotný habe bald sehr gut gelernt, den Parteiapparat zu manipulieren, sagt der Historiker Zdeněk Doskočil vom Prager Institut für zeitgenössische Geschichte:
„Das war eine seiner besonders ausgeprägten Fähigkeiten und zugleich auch die Voraussetzung dafür, dass er sich in die ranghohe Machtposition hocharbeiten konnte. Zunächst wurde er als Sekretär für die Organisierung der Parteiagenda ausgewählt, weil man glaubte, er sei ein Mann ohne politische Ambitionen. Das Kalkül ging nicht auf. Genauso wie bei der Wahl von Ceausescu zum Vorsitzenden der rumänischen kommunistischen Partei 1965, als man von denselben Prämissen ausgegangen war. In beiden Fällen war es ein fataler Fehler. Es zeigte sich, dass die Arbeit im Parteiapparat und die Kaderpolitik Novotnýs Stärke war.“ Schon nach 1948 knüpfte Novotný gute Beziehungen zu sowjetischen Diplomaten. Sein Aufstieg in das Zentralkomitee der Partei habe ihm den Weg zu engeren und ab da auch offiziellen Kontakten mit ihnen geöffnet, schreibt der Historiker Karel Kaplan in seinem Buch „Antonín Novotný – der Aufstieg und Fall des Volksapparatschiks“:„Schon am 3. Oktober 1951 traf Novotný auf eigene Initiative mit einem Mitarbeiter der sowjetischen Botschaft in Prag zusammen. Es war der dritte Sekretär Zvonkov. Novotný informierte ihn über die Situation im zentralen Sekretariat der KPTsch nach der Abberufung des Generalsekretärs der Partei, Rudolf Slánský. Novotný sprach über eine Gruppe seiner Mitarbeiter im Parteisekretariat, die sich während des Zweiten Weltkrieges in westlichen Staaten aufgehalten hatten. Viele von ihnen waren Juden. Außerdem schwärzte er einige Parteifunktionäre an.“
Die politische Atmosphäre in der damaligen Tschechoslowakei war düster. Anfang der 1950er Jahre gab es 422 Arbeitslager im Land, in denen schon im Mai 1950 allein im tschechischen Teil der Republik rund 11.000 Menschen aus politischen Gründen eingesperrt waren. In den Schauprozessen gegen politische Gegner wurden Todesstrafen gefällt und hohe Gefängnisstrafen verhängt. In den Jahren 1951 und 1952 erreichten die stalinistischen Säuberungen auch die Parteispitze. Elf Mitglieder des Zentralkomitees wurden hingerichtet, unter ihnen auch der Erste Parteisekretär Rudolf Slánský. Karel Kaplan schreibt in seinem Buch über einen weiteren Besuch Novotnýs in der sowjetischen Botschaft:
„Nach der Verhaftung von Rudolf Slánský berichtete er am 29. November 1951 über die Atmosphäre in der Partei und unter der Bevölkerung. Bei dieser Gelegenheit beschwerte sich Novotný beim Botschaftsrat Tarakanov über Schwierigkeiten, die er bei seiner Arbeit im Parteisekretariat zu bewältigen habe. Als Grund führte Novotný an, er könne nicht allen Mitarbeitern voll vertrauen.“Durch seine Besuche in der sowjetischen Botschaft schaffte sich Novotný eine gute Ausgangslage für den nächsten Karriereschritt. Nach dem überraschenden Tod von Staatspräsident Antonín Zápotocký im Jahr 1957 gewann er mit Unterstützung Moskaus den Machtkampf hinter den Kulissen. Am 19. November 1957 wurde Novotný auch zum Staatspräsidenten gewählt. Während seiner Präsidentschaft kam es noch zu den letzten politischen Hinrichtungen. Die letzte fand am 17. November 1960 statt. Im selben Jahr setzte Novotný durch, den sozialistischen Aufbau in der Tschechoslowakei offiziell als beendet zu verkünden. Von nun an sollte das Land, umbenannt in Tschechoslowakische Sozialistische Republik (ČSSR) den Weg zum Kommunismus einschlagen. In der neuen Verfassung von 1960 wurde die führende Rolle der kommunistischen Partei verankert.
Um die Mitte der 1950er Jahre herrschte in der Tschechoslowakei nach Meinung des Historikers Doskočil das konservativste Regime im mitteleuropäischen Raum. Obwohl Nikita Chruschtschow in seiner Geheimrede auf dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 die Verbrechen seines Vorgängers Stalin verurteilt hatte und damit die Tauwetter-Periode begann. Und wie reagierte Novotný?„Novotný setzte sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre dafür ein, dass die Thesen der Chruschtschow-Politik einschließlich der Rehabilitierung von politisch verfolgten Personen keine besondere Anwendung in der tschechoslowakischen Praxis fanden. Als aber Chruschtschow Anfang der 1960er Jahre eine neue Welle der Entstalinisierung losstieß, hatte sich auch die Lage in der Tschechoslowakei bereits etwas gewandelt. Unter anderem hängt dies mit einer starken Wirtschaftskrise in der ČSR zusammen. Diesmal identifizierte sich Novotný mit Chruschtschows Thesen. Sie sollten nämlich seine persönliche Legitimation untermauern und ihm auch dabei helfen, alte Apparatschiks definitiv aus der Politik zu verdrängen. Um die Jahre 1962/1963 fing er an, einen neuen Kurs einzuschlagen. Mit etwas Verspätung kam es auch zu einer teilweisen Liberalisierung. Kurz darauf kam es in der Sowjetunion allerdings erneut zu einer politischen Wende. Leonid Breschnew wurde Staats- und Parteichef, und die Sowjetunion trat den Weg einer gewissen Re-Stalinisierung an.“
Als Chruschtschows Anhänger warf Novotný sogar Breschnew vor, seinen Vorgänger von der Politszene „abgeschossen zu haben“, was ihm der Sowjetführer nie verzieh. An Selbstbewusstsein und Selbstsicherheit mangelte es dem tschechoslowakischen Partei- und Staatsoberhaupt sicher nicht. Er war sogar überzeugt, er sei der konsequenteste Kämpfer für die Reinheit des Marxismus. Dazu Karel Kaplan:
„Ranghohe Parteifunktionäre haben diese Rolle Novotnýs passiv wahrgenommen, obwohl sie von seinen Wissenslücken auf dem Gebiet des Marxismus wussten. Seine dürftigen Kenntnisse erlangte er nach dem Februar 1948 in einem Schnellkurs für Bezirkssekretäre. Danach hat er sich nicht mehr dem Studium der kommunistischen Klassiker gewidmet. Der Marxismus schrumpfte in seinem Kopf zu ein paar geläufigen Definitionen über den Klassenkampf, über Basis und Überbau, Diktatur des Proletariats und Ähnliches. Das reichte ihm für die ganze Amtszeit.“
Antonín Novotný verstand es aber auch, sich die Loyalität wichtiger Parteigenossen zu sichern:„Als Erster Sekretär des ZK der KPTsch und vor allem als Präsident verfügte Antonín Novotný über große Geldsummen. Über ihre Verwendung entschied er allein, ohne dass sie in einem Protokoll festgehalten oder kontrolliert wurden. Aus den Parteifonds, die aus staatlichen Quellen stammten, wurden in der Regel verschiedene kommunistische Parteien im Ausland unterstützt. Als ein Sonderposten im Staatsbudget wurde unter Novotný auch der Fonds des Präsidenten in Höhe von 7,5 Millionen Kronen pro Jahr errichtet. Aus diesem Fonds verteilte er an alle Mitglieder der Parteiführung und die Sekretäre des Zentralkomitees weiße Briefumschläge mit Bargeldprämien, von denen sie wiederum kleinere oder größere Beträge in die Parteikasse zurückzahlten. Parteibeiträge oder Steuern zahlte niemand.“
Doch auch nach außen hin pflegte Novotný sein Image des beliebten Volksführers. Er reiste oft durch die böhmischen Lande zu verschiedenen Treffen mit Arbeitern und Landwirten und steuerte gerne besserwisserische Ratschläge bei.In den Jahren 1964 bis 1967 weicht die Entwicklung in der Tschechoslowakei immer mehr von der sowjetischen ab. Dies geschieht zum Teil mit Novotnýs Zustimmung, zum Teil gegen seinen Willen. 1967 versucht er, den Liberalisierungsprozess zu stoppen und umzukehren. Doch es gelingt ihm nicht und er verliert schnell den Boden unter den Füßen. Novotný wird letztlich nur noch als Symbol vergangener Zeiten geduldet. Eines der größten Probleme, die er während seiner Amtszeit nicht zu reflektieren verstand, war seine Beziehung zur Slowakei. Zdeněk Doskočil:
„Novotný hatte eine etwas kritische Beziehung zu den Slowaken und die Probleme der Slowaken hat er tatsächlich nicht verstanden. Darin hat er sich aber von anderen tschechischen Mitgliedern des Politbüros kaum unterschieden.“
Doskočil spricht diesbezüglich vom Pragozentralismus. Offiziell wurde dies das Prinzip des so genannten „demokratischen Zentralismus“ genannt.
Anfang 1968 sind Novotnýs Tage definitiv gezählt. Am 5. Januar wird er vom reformwilligen Flügel der Parteispitze als Erster Parteisekretär abgewählt und durch Alexander Dubček ersetzt. Unter dem Druck der Medien, die bereits liberal beeinflusst und nicht mehr zensiert werden, tritt Novotný am 28. März zudem von seinem Präsidentenamt zurück.
Auf welche Weise habe Genosse Novotný persönlich dazu beigetragen, dass die Slowaken so viel Misstrauen ihm gegenüber spürten? Diese rhetorische Frage stellte der spätere Parteichef Gustáv Husák im März 1968 bei einer der vielen öffentlichen Diskussionen mit Politikern. Husáks Antwort:„Die Einstellung von Genosse Novotný zur nationalen Frage war von Anfang an falsch. Er hat diese Frage ignoriert. Er hat so vehement die Einheit in allen Bereichen hervorgehoben, dass er sie in allen Bereichen zerstört hat. Er sieht nicht, dass es hier auch eine andere Nation gibt, oder erkennt sie zwar verbal an, stellt sie aber in Wirklichkeit als geringfügig hin. Durch sein konkretes Vorgehen demütigt und beleidigt er sie.“
Antonín Novotný zog sich tief verbittert als Opfer des Prager Frühlings aus dem öffentlichen Leben zurück. Am 28. Januar 1975 ist er in Prag gestorben.