Jiří Kosta zu 1968: „Dubček hatte den Menschen im Sinn“
Das Jahr der großen historischen Achten hat begonnen. Gleich das erste Jubiläum fällt auf Anfang Januar. Vor 40 Jahren tagte nämlich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Das Ergebnis: der Sturz eines der letzten stalinistischen Führer im damaligen Ostblock, der Sturz von Parteichef Antonín Novotný. An seine Stelle trat der Reformer Alexander Dubček. Was danach über das Land wehte, waren die lauen Lüfte des Prager Frühlings.
Herr Kosta, 40 Jahre sind seit dem Beginn des Prager Frühlings vergangen. Erste Entwürfe schuf aber bereits Anfang der 60er Jahre eine Gruppe von Wirtschaftswissenschaftlern um Ota Šik, zu der auch Sie gehörten. Warum wurde diese Wissenschaftlergruppe eingesetzt?
„Die Staats- und Parteiführung befand sich in einem Dilemma. Die Versorgung stockte und im Jahr 1963 gab es ein Minuswachstum. Aber das Wichtige waren nicht die Zahlen, sondern wie die Menschen lebten. Alltägliche Dinge und Lebensmittel waren nicht zu haben. Die Fahrt in die Fabrik oder zur Arbeit war ein Martyrium, denn die Infrastruktur funktionierte nicht - weder die Straßen noch die Schienen. Die Bestandteile für die Industrieproduktion waren mangelhaft. Die Menschen waren sehr beunruhigt, und die Arbeiter getrauten sich zu murren. Das machte der Parteiführung Angst, sie suchte also jemanden, der ein Reformkonzept erarbeiten würde, damit sie selbst an der Macht bleiben konnte. Deswegen war sie gezwungen, uns das Wort zu geben.“
Wie sah es zu dem Zeitpunkt denn innerhalb der Parteiführung aus. Gab es damals schon zwei oder mehrere Richtungen? Und welche Bedeutung hat dann die Ernennung von Alexander Dubček zum Vorsitzenden der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch)?
„Das war natürlich ein Prozess. Es gab bereits in den 50er Jahren so eine stille Opposition einiger Mitglieder und sogar auch einiger Funktionäre vor allem nach dem 20. Parteitag der KPdSU, bei dem Chruschtschow 1956 Stalin kritisiert hatte. Der Prozess schritt mit den zunehmenden Schwierigkeiten im wirtschaftlichen Bereich fort. In der ersten Hälfte der 60er Jahre kann man schon von einem Reformflügel innerhalb der KPTsch sprechen. In das Zentralkomitee der Partei wurden dann auch Menschen gewählt, die zuvor niemals hätten Mitglieder der Führung werden können. Da gab es also bereits einen Konflikt, der sich dann zuspitzte und durch die beiden Namen Antonín Novotný und Alexander Dubček repräsentiert wurde. Der Konflikt beruhte auf zweierlei. Zum einen forderte Dubček mehr innerparteiliche Demokratie. Novotný lehnte das mit dem Quasi-Argument ab, die Partei sei bei zuviel Demokratie nicht mehr schlagfertig. Novotný wollte also an dem Alten, der Bürokratie und der Befehlsform in der Partei festhalten. Der zweite Punkt war, dass Novotný sich als tschechischer Nationalist entpuppte, wohingegen Dubček Slowake war. Doch auch die Mehrheit der tschechischen reformorientierten Kommunisten gab Alexander Dubček recht, dass man den Slowaken ihre Eigenständigkeit innerhalb einer Föderation zugestehen muss. Im Januar 1968 brach dann bei der historischen Tagung des Zentralkomitees der Konflikt offen aus. Novotný wurde abgesetzt und Dubček durch den Druck der Öffentlichkeit einstimmig zum Parteiführer gewählt wurde. Da wussten dann auch die Menschen im Lande, die nicht in der Partei waren, dass ein neuer Kurs eingeschlagen würde.“Sie sprechen von dem neuen Kurs, der eingeschlagen wurde. Der Reformkurs war doch aber eher ein offener Prozess.
„Ja, das stimmt.“
Es gab also unterschiedliche Ansichten. Welches waren denn die wichtigsten Hauptrichtungen?
„Entscheidend waren da die nächsten drei Monate bis März, in denen die Intellektuellen innerhalb der Partei unterschiedliche Kommissionen bildeten. Auch ich war daran beteiligt. In den Kommissionen wurden die Entwürfe erarbeitet, die sich Ende März im so genannten Aktionsprogramm der KPTsch niederschlugen. Dort ging es schon damals um die Frage der Entscheidungsprozesse innerhalb der Wirtschaft, das heißt: Sollen die Unternehmen weiterhin an das ganze Planungskorsett gebunden sein oder Raum für freie Wahl erhalten? Ebenso floss in das Aktionsprogramm, das am 10. April 1968 verabschiedet wurde, eine gewisse Freiheit der Presse, der Kunst und der Wissenschaft ein. Das war alles noch sehr begrenzt, aber es war ein Prozess. Und wir, die wir an den Reformkonzepten beteiligt waren, wussten damals, dass das nicht das letzte Wort sein konnte. Was zudem besonders wichtig war: Ein allzu starkes Eingreifen der politischen und parteipolitischen Gremien in die Wirtschaftsprozesse wurde bereits in dem Aktionsprogramm in Frage gestellt. Das bedrohte wiederum die Monopolstellung der Partei, die in der Verfassung mit der Formel ´führende Rolle in allen Bereichen“ festgelegt war.“
Welche Bedeutung hatte eigentlich Alexander Dubček selbst in dem gesamten Reformprozess?„Eine sehr große und sehr positive Bedeutung. Ohne ihn wäre das zu der Zeit nicht möglich gewesen. Sein großer Verdienst war, dass er zuhörte, dass er offen war, dass er nicht an irgendwelchen Dogmen hing, sondern immer den Menschen, den einzelnen im Sinne hatte. Das zeigte sich dann in der Formel `Sozialismus mit menschlichem Antlitz`. Heute sehen das viele von uns anders, es muss nicht mehr unbedingt Sozialismus heißen. Aber es sollte die menschliche Freiheit und die Entwicklungsmöglichkeit jedes einzelnen ermöglichen sowie auch sozial gerecht sein. Und das war Dubčeks Verdienst. Die Grundwerte hatte er sozusagen im Blut, er hatte Instinkt. Er war eine menschlich ungeheuer großartige Gestalt, die für uns sehr viel bedeutete, obwohl Dubček die Konzepte im Einzelnen nicht erarbeitet hatte.“
Über die Reaktionen im Westen ist ja schon viel geschrieben worden. Sie haben diese unmittelbar erlebt. Wie würden sie das beschreiben?„Vor allem nach der Niederschlagung des Prager Frühlings waren die Reaktionen auf das Reformkonzept im Westen sogar viel positiver als im Osten. Mit dem Osten meine ich dabei nicht die politischen Führungen. Die große Mehrheit der Menschen auch in den anderen Ostblockländern glaubte nicht, dass es Wege geben konnte, um das System zu ändern. Die Menschen waren mutlos geworden, nach all den Erfahrungen wie Berlin 1953, Budapest 1956 und Polen, als die Aufstände niedergeschlagen worden waren. Im Westen hatte ich auch zu der Zeit, als ich zwischen 1964 und 1968 als tschechoslowakischer Bürger reisen durfte, bei meinen Vorträgen immer ein tolles Echo zu dem Aufbegehren in der Tschechoslowakei. Es wurde selbstverständlich unterschiedlich bewertet. Von konservativer Seite gab es eher die Hoffnung, dass wir den Westen in jeder Hinsicht kopieren würden. Stärker links orientierte Gruppen glaubten, jetzt sei der Weg gefunden, um den Sozialismus eben etwas menschlicher zu gestalten. Die Reaktionen waren jedoch überall sehr positiv. Das war mein Eindruck und auch der aller meiner Freunde.“